Monika Ankele: Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2009, EUR 24,90.

Cover: Boehlau-Verlag

Zur Person: Monika Ankele (30) hat in Graz, Wien und Berlin Geschichte studiert. Von 2005 bis 2008 war sie Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Cultural Studies, Gender Studies, Alltagsgeschichte und Psychiatriegeschichte. Mit Karin Ankele und Gudrun Ankele ist sie in der Formation "Schwestern Brüll" auch künstlerisch tätig. 2009 erhielt sie den Käthe-Leichter-Preis für Frauenforschung, Geschlechterforschung und Gleichstellung in der Arbeitswelt. 

Foto: Privat

Feministische Performance mit den "Schwestern Brüll" (von links: Gudrun Ankele, Karin Ankele und Monika Ankele). "Im Moment der Selbstermächtigung sehe ich eine wichtige Verbindung zwischen diesen Selbstzeugnissen und aktuellem feministischem Handeln. Das wollten wir als "Schwestern Brüll" auch machen", so Monika Ankele.

Foto: Kristina Satori

Die Historikerin Monika Ankele hat letzte Woche den Käthe-Leichter-Preis für Frauenforschung, Geschlechterforschung und Gleichstellung in der Arbeitswelt für ihre Dissertation "Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn", die im Böhlau-Verlag erschienen ist, erhalten. Ankele ging darin anhand von Krankenakten und Selbstzeugnissen den Handlungsweisen von Patientinnen in psychiatrischen Anstalten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Strategien der Raumaneignungen, diverse Formen der Selbstgestaltung, Essverhalten oder die Arbeitsgewohnheiten wurden von Ankele als Alltagspraktiken fokussiert, mit Hilfe derer die Patientinnen die Grenze zwischen ihrem früheren Leben "draußen" und dem in den psychiatrischen Anstalten zu bewältigen suchten.

                                         *******

dieStandard.at: Wie sind Sie darauf gekommen, die Alltagspraktiken von Psychiatrie-Patientinnen zu untersuchen?

Monika Ankele: Es gab 2004 die Ausstellung in der Sammlung Prinzhorn "Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900." Die Ausstellung und der Katalog dazu haben mich auf dieses Thema gebracht.

dieStandard.at: Wie sind Sie vorgegangen?

Monika Ankele: Ich habe mir die Selbstzeugnisse aus der Sammlung Prinzhorn von Patientinnen psychiatrischer Anstalten angesehen. Bilder, textile Arbeiten wie zum Beispiel ein Jäckchen, das mit biographischen Informationen bestickt ist, Zeichnungen, Briefe oder auch nur kleine Notizen. Ab den 70er Jahren sind von MitarbeiterInnen der Sammlung Prinzhorn im Nachhinein die dazu gehörigen Krankenakten recherchiert worden, denn die Namen von den Frauen, die diese Werke hinterlassen haben, waren bis dahin nicht bekannt. Ich habe die Krankenakten transkribiert und durch die Analyse der Selbstzeugnisse habe ich entdeckt, dass alltägliche Praktiken eine sehr wichtige Rolle im Anstaltsalltag spielten. Dinge, die sonst leicht übersehen werden, stellten sich mir in einer großen Dimension dar.

dieStandard.at: Warum haben Sie sich ausschließlich Patientinnen angesehen?

Ankele: In dem Buch "Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900" beschreibt die Historikerin Karen Nolte, dass wenig bekannt ist, wie PatientInnen mit restriktiven Maßnahmen in den Anstalten umgegangen sind. Diese Frage hat mich interessiert. Auch wollte ich der Figur der Hysterikerin, die noch als Idealtypus der Patriarchatskritik herumschwebt, auf eine andere Ebene bringen. Fernab von dieser idealtypischen Figur wollte ich schauen, wie der Alltag von Patientinnen aussah, also hin zu einer realen Figur.

dieStandard.at: Aus welchen sozialen Schichten setzten sich die Patientinnen in Psychiatrien zusammen?

Ankele: In meinem Material war das sehr durchgemischt. Es gab unterschiedliche Verpflegungsklassen und dann gab es auch noch Privatanstalten. Die Privatanstalten waren für Frauen aus dem Bürgertum schon noch mal eine Möglichkeit, sich von Frauen aus anderen sozialen Schichten abzugrenzen.

dieStandard.at: Wie sahen die damaligen Chancen aus, aus der Psychiatrie wieder rauszukommen? Hat es überhaupt einen Heilungsanspruch gegeben?

Ankele: Ja, den hat es schon gegeben. Es gab auch das Problem, dass die Anstalten irrsinnig voll waren. Zuerst kamen die Menschen in eine Klinik, wo entschieden wurde, ob der Mensch unheilbar krank ist oder ob Chance auf Heilung besteht. Dafür gab es dann unterschiedliche Anstalten. Schon aus Kapazitätsgründen mussten aber Leute entlassen werden. Es gab aber auch Patientinnen, die 30 oder 40 Jahr interniert waren und in den Anstalten gestorben sind. Geflohen sind natürlich auch einige.

dieStandard.at: In Ihrem Buch gibt es ein Bild von einer Patientin mit einem "selbstgebastelten Mann", was hatte es damit auf sich?

Ankele: Das war Katharina Detzel, sie war eine besondere Patientin. Sie war sehr einfallsreich und hat immer überlegt, wie sie aus der Anstalt kommen könnte. Ihr ist nach vielen Jahren auch die Flucht gelungen. In der Krankenakte von Katharina Detzel war nachzulesen, warum sie diese Puppe gemacht hat. Sie war in einer Isolationszelle und hat diese Puppe dort aus den spärlichen Materialien angefertigt und an die Decke gehängt, den Ärzten erklärte sie dann, dass die Puppe von irgendwelchen Kerlen in der Nacht an die Decke gehängt wurde und wenn sie nicht schnellstens aus der Zelle kommt, dann würde ihr das gleiche passieren. Es war also eine Selbstmord-Drohung, um aus der Isolation zu kommen. Insgesamt war Katharina Detzel 20 Jahre in der Psychiatrie, bevor sie flüchtete. Später wurde sie im Konzentrationslager ermordet.

dieStandard.at: Die verschiedenen Formen der Alltagspraktiken haben Sie in vier Bereiche unterteilt. Raumaneignungen, Selbstgestaltung, Essverhalten und Arbeitsgewohnheiten. Wie kann man sich diese "Gestaltungsspielräume" vorstellen?

Ankele: Am spannendsten fand ich die Praktiken der Raumaneignung, das "sich Einrichten und Wohnen". Die Frage, welche Bedeutung es hat, sich einen Raum zu schaffen ist für Orte wie die Psychiatrie interessant, in denen keine persönlichen Habseligkeiten mitgebracht werden dürfen und man Bett an Bett mit fremden Menschen leben muss.

Sehr große Bedeutung hatte zum Beispiel - wie aus den Krankenakten hervorging - die Bettdecke. Patientinnen verbrachten etliche Tage und Nächte unter der Bettdecke, aßen dort, strickten oder stopften ihre Strümpfe.

Die Patientin Marie Lieb war in einer Isolationszelle untergebracht und hatte dort nur ein Leintuch, das sie in Streifen gerissen und zu einer Rauminstallation aufgelegt hat. So schufen sich Patientinnen auch einen Raum mittels unterschiedlicher Materialien und Dinge, die auf die Patientinnen verwiesen - wenn die Patientin den Raum verließ, verwiesen diese Materialien noch immer auf sie und markierten ihren Raum.

dieStandard.at: Was ließen sich die Frauen in Sachen Selbstgestaltung einfallen?

Ankele: Kleidung und Haare machten damals noch sehr stark Standesunterschiede sichtbar. In vielen Anstalten musste aber Einheitskleidung getragen werden. Es wurde dokumentiert, dass die Frauen ihre eigene Kleidung tragen wollten und sich ihrer Freiheit beraubt fühlten, wenn sie die Anstaltskleidung tragen mussten. Viele Patientinnen haben ihre Kleidung umgestaltet oder persönliche Teile immer wieder repariert, auch wenn sie schon ganz zerschließen waren. Für die Haare wurde aus spärlichen Materialien Schmuck gebastelt oder sie schnitten sich auch aus Protest die Haare ab, im Wissen, dass das den Ärger der Ärzte provoziert.

dieStandard.at: Eine Individualisierung der Patientinnen war also in der Psychiatrie alles andere als gefragt?

Ankele: Man kann schwer sagen, dass diese oder jene Verbote in der Praxis tatsächlich so gehandhabt wurden. Es ging sehr viel um Interaktionen, um Handeln im Moment: Wie ist gerade die Interaktion mit den Wärterinnen und was ließen diese - vielleicht um der Ruhe willen - zu. Man hat auch gesehen, dass es wichtig ist, individuell zu beurteilen. Aneignungs- und Aushandlungsprozesse waren bis zu einem gewissen Grad möglich.

dieStandard.at: Der Umgang mit Nahrung spielt auch heute für Selbstermächtigungsdiskurse eine Rolle. Wie nutzten die Patientinnen damals diesen Faktor?

Ankele: Die sinnliche Komponente stand da sehr im Vordergrund. Viele Patientinnen verbanden mit verschiedenen Geschmäckern und Düften Erinnerungen an ihr Zuhause, an die Vergangenheit, an die Person, die sie waren. Es wurden von den Familien auch Essenspakete in die Anstalten geschickt. Natürlich hat es auch Nahrungsverweigerung gegeben.

dieStandard.at: Welche Funktion hatte die Arbeit oder sonstige Beschäftigungen?

Ankele: Alle hatten eine Arbeit oder gingen bestimmten Tätigkeiten nach, bevor sie in die Anstalt kamen. Eine Ideologie dieser Zeit war "jemand, der arbeiten kann, ist auch gesund". Patientinnen versuchten über die ihnen zugeteilten Arbeiten zu zeigen, dass sie nicht krank sind und aus der Anstalt entlassen werden können. Auch für Ärzte war das wichtig: Der Zeitpunkt, von dem an man seiner Arbeit nicht mehr wie gewohnt nachgehen konnte, wurde vielfach als der Beginn einer Krankheit angesetzt.

dieStandard.at: Inwiefern sehen Sie in den Selbstzeugnissen der Frauen Handlungsanleitungen für feministisches/politisches Agieren?

Ankele: Im Moment der Selbstermächtigung sehe ich eine wichtige Verbindung zwischen diesen Selbstzeugnissen und aktuellem feministischem Handeln. Das wollten wir als "Schwestern Brüll" auch machen: Sich einfach Raum nehmen, unabhängig davon, ob man was gut kann oder nicht. Egal, ob man sich in dem Raum fremd fühlt, sich darin vielleicht unwohl fühlt und die Menschen nicht kennt; dass man trotz all dem für sich einen Raum beansprucht. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 21.10.2009)