Eine Patientin Dr. Mas in der chinesischen Provinz.

Foto: Viennale

Dr. Mas Klinik ist ein kleiner Backsteinwürfel in der nordwestchinesischen Provinz. In einem bescheiden möblierten Raum sitzt der Arzt, der traditionelle chinesische Medizin praktiziert, hinter einem Holztisch. Der Lack der Tischplatte ist an den Rändern ziemlich abgescheuert, man kann sich gut vorstellen, wie hier Jahre von Konsultationen, Legionen von zur Pulsuntersuchung aufgelegten Armen ihre Spuren hinterlassen haben.

Zu Beginn schildert Dr. Ma, ein bedächtiger Kettenraucher, kurz seinen Werdegang. Er hat in der Landwirtschaftsbrigade gearbeitet, später, in den 80er-Jahren, in der Krankenstation. Dann hat er ein Studium begonnen, parallel zu seinem allmählichen Interesse an traditioneller chinesischer Medizin hat diese auch in der allgemeinen Anschauung wieder an Prestige gewonnen. Heute, sagt Dr. Ma, mache ihm weniger ein Mangel an Patienten Sorge als deren Zunahme.

Ein Gutteil von Dr. Mas Befundaufnahme besteht im geduldigen Zuhören. Der kleine Ordinationsraum ist zugleich Wartezimmer und erfüllt darüber hinaus eine soziale Funktion: Um den kleinen Eisenofen in der Mitte, auf schlichten Holzbänken sitzen die (alten) Bauern und Bäuerinnen aus der Umgebung und tauschen Neuigkeiten und Informationen aus.

Da ist die Rede von jungen Männern, die sich als Wanderarbeiter verdingt haben und spurlos verschwunden sind. Einem anderen Mann ist die Ehefrau weggelaufen:eine gekaufte Braut aus der Provinz Sichuan; für das viele Geld, umgerechnet rund 2000 Euro, habe die Familie aber immerhin einen männlichen Erben bekommen. Später, wenn eine Frau sich in der Krankenstation vor Schmerzen krümmt und angibt, von Ehemann und Schwiegermutter misshandelt worden zu sein, dann ahnt man, dass es für Ihresgleichen, weit weg von der eigenen Familie, gute Gründe gibt, das Weite zu suchen.

Manche Tradition aus der Feudalzeit hat scheinbar relativ unbeeindruckt vom jeweils herrschenden System die Jahrzehnte überdauert. Manche Entwicklungen der Wirtschaftsliberalisierung haben es aber auch bis hierher geschafft. So tobt ein Mann auf offener Straße, dass er um seinen Lohn betrogen worden sei. Die Kamera, die sich im Wartezimmer aufgehalten hat, ist ganz offenkundig dem Lärm nach draußen gefolgt. Die Szene bringt sehr schön auf den Punkt, wie und dass der Filmemacher Cong Feng mit seinem fast vierstündigen Dokumentarfilm Dr. Ma's Country Clinic/Ma dai fu de zhen suo weit mehr aufzeichnet, als die medizinische Praxis, die ihm als Angelpunkt dient.
Nach rund 20 Minuten beispielsweise tritt man zum ersten Mal richtig ins Freie: Man sieht weites staubiges Land, und wie in feuchter Kälte der Boden auf traditionelle Weise bewirtschaftet wird - mit Ochsengespann und Handpflug. Der Wind verfängt sich im Mikrofon, einer hustet. Bald wird Dr. Ma einen neuen Patienten zu betreuen haben. (Isabella Reicher, DER STANDARD/Printausgabe, 16.10.2009)