Es sind Geschichten, wie sie in Washington zur Pflichtlektüre gehören. Die Mächtigen und ihre menschlichen Schwächen. Staatsgäste und ihre Eskapaden, allen vor an Boris Jelzin mit seiner sprichwörtlichen Liebe zum Alkohol.

Den russischen Präsidenten fand der Secret Service einmal mutterseelenallein an der Pennsylvania Avenue, sturzbetrunken und in Unterwäsche. Als ihn die Leibwächter zurücklotsen wollten ins Blair House, das noble Quartier für wichtige Besucher, begann Jelzin zu schimpfen wie ein Rohrspatz. Aus dem Weg! Er brauche auf der Stelle ein Taxi, um zu einem Pizzabäcker zu fahren, er habe solchen Heißhunger. „Nun ja, er bekam seine Pizza", kommentierte Bill Clinton das nächtliche Drama auf der Hauptstadtmagistrale.

Der Mann, der das alles notierte, hat lange wie ein Grab geschwiegen. Taylor Branch ist Historiker und, was in diesem Zusammenhang wichtiger ist, ein alter Freund des 42. US-Präsidenten. 1972 hatten die beiden auf verlorenem Posten in Texas Klinken geputzt, fürs Team George McGoverns, eines Kandidaten, der gegen Richard Nixon ziemlich chancenlos war. So ein Demutserlebnis schweißt bekanntlich zusammen. Und dennoch war Branch überrascht, als ihn Clinton zwanzig Jahre später beim Dinner fragte, ob er nicht seine persönliche Chronik führen wolle, eine Chronik der ungeschminkten Wahrheit.

79 Mal haben sich die beiden getroffen, zwischen 1993 und 2001. Die Gespräche waren so geheim, dass bis auf eine einzige Sekretärin niemand davon wusste. Wann immer Clinton Zeit und Lust hatte, meistens nachts, rief er seinen Vertrauten in Baltimore an. Der packte zwei Tonbandgeräte ein, zwei für den Fall, dass eines mal nicht funktionierte, und fuhr in die Machtzentrale. Dort plauderte der Präsident aus dem Nähkästchen, und hinterher versteckte er die Bänder zwischen seinen Socken in einer Kommode. Branch wiederum sprach auf der Heimfahrt in sein Diktiergerät, was er soeben gehört hatte. Darüber hat er ein Buch geschrieben: „The Clinton Tapes".

„Zynisches Zeitalter"

So kann man erfahren, wie sich der Schürzenjäger den Beginn der folgenschweren Sexaffäre mit Monica Lewinsky erklärte. Unter dem Druck schlechter Nachrichten sei er „zerbrochen, einfach zerbrochen". Nur deswegen, fügte er melancholisch hinzu, sei er gescheitert in dem Versuch, Amerika aus seinem „zynischen Zeitalter" herauszuholen. Man lernt, wie er seine Tochter Chelsea beneidete, weil die eisern dranblieb, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Das Mädchen tanzte ausdauernd Ballett, obwohl ihm das Talent fehlte, eine wirklich gute Ballerina zu werden. Ihrem Vater imponierte die Willensstärke - „ich hätte das nie gekonnt".

Selbst in schweren Stunden bereute es der Mann aus Arkansas nie, Präsident geworden zu sein. „Er liebte Politik so sehr, dass er sogar über Niederlagen zärtlich sprechen konnte", erzählte Branch dem Fernsehsender PBS. „Er hatte Freude daran, das Schauspiel aus der ersten Reihe zu sehen." Als sich die Streithähne in Nordirland aussöhnten, frohlockte der hochkarätige Vermittler, ein paar schöne Tage wie diese machten ein ganzes Politikerleben lebenswert.

Dann sind da noch die lieben Zeitgenossen, mal verehrt, mal abgebürstet. Etwa Papst Johannes Paul II., rätselhaft in seinem Charisma: „Ich würde es wie die Hölle hassen, müsste ich gegen ihn antreten, und sei es auch nur bei einer Bürgermeisterwahl". (Frank Herrmann aus Washington, DER STANDARD, Printausgabe, 14.10.2009)