ZUR PERSON: Yan Lianke wurde 1958 geboren. Sein Roman "Der Traum meines Großvaters" liegt in deutscher Übersetzung im Ullstein-Verlag vor.

Foto: Erling

Drei seiner Bücher stehen auf dem Verbotsindex. Johnny Erling sprach mit ihm über Zensur in seinem Land.

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Standard: Alle fahren zur Buchmesse, nur Sie fahren nach Spanien? 

Yan Lianke:Weil es bei uns Leute gibt, die nicht wollen, dass ich mit nach Frankfurt komme. Unser Presse- und Verlagsamt (GAPP) und der Schriftstellerverband, dem ich angehöre, haben meinen Namen nicht auf die Liste der über 100 Autoren gesetzt, die sie zur Buchmesse schicken.

Standard: Dabei haben sie Chinas bedeutenste Literaturpreise erhalten. Die Kritik nennt sie einen der wichtigsten Erzähler des Landes.

Yan: Für die Offiziellen bis ich einer der Umstrittensten.Beide Romane, die auf Deutsch erscheinen, „Dem Volke dienen" und der „Traum meines Großvaters" sind bei uns verboten. Sie wollen nicht, dass ein Autor mitkommt, der dann auf der Buchmesse gefragt wird, warum seine Bücher auf dem Index stehen. So kommt es, dass ich zwar individuelle Einladungen von der deutschen Seite habe, aber nicht auf der Liste der Delegation stehe.

Standard: Die Präsidentin des Schriftstellerverbandes Tie Ning hat uns auf Nachfrage gesagt, sie wisse davon gar nichts. Sie schätze sie zudem als Autoren.

Yan: Ich respektiere sie auch als Schriftstellerin.. Aber sie zieht sich aus der Affäre. Wenn sie als Delegationsleiterin sagt, sie wüßte nicht Bescheid, zeigt das nur ihre Hilflosigkeit an.

Standard: Sie könnten doch privat nach Frankfurt fahren

Yan: Viele drängen mich dazu. Es liegt mir nicht, auf diese Weise zu fahren, nur um beim Tempelmarkt dabei zu sein. Ich möchte mich mit Literatur auseinandersetzen . Ich fahre jetzt zwei Wochen erst nach Spanien und dann nach Frankreich, wo mein Roman „Shou Huo" (Freude) übersetzt erscheint. Dort kann ich sagen, was ich denke.

Standard: Welche Werke von ihnen sind verboten worden?

Yan: 1994 traf es zuerst meine Erzählung "Xia Riluo". Da war ich Armeeschriftsteller und schrieb über zwei Helden, die ich von ihrem Podest wieder auf die Füße stellte. Das hat positives Aufsehen erregt, nur nicht bei der Armee. Ein halbes Jahr lang musste ich Selbstkritiken verfassen, selbst, als ich krank war. Zehn Jahre später warf mich die Armee raus. Anlass war mein Roman "Freude", die Geschichte über ein bauernschlaues Dorf, das mit Revolutionstourismus reich werden und sich dafür Lenins einbalsamierte Leiche von Moskau kaufen will. Der Roman selbst wurde nicht verboten. 2005 traf der Bann aber meine Erzählung "Dem Volke dienen". Sie sei "vulgär, subversiv und verspottet Mao" hieß es in Erlassen, die vom Propagandaministerium und von GAPP kamen. 2006 wurde auch der "Traum des Großvaters" verboten, nachdem 80000 Exemplare ausgeliefert waren.

Standard: Ihr Roman "Dem Volke dienen" ist eine amoröse Politsatire, bei der die frustrierte Frau eines Armeekommandeurs einen Mao verehrenden Bauernburschen der Truppe verführt, indem sie die Losung des Vorsitzenden in ein „ihr zu dienen" umfunktioniert. „Großvaters Traum" behandelt das groteske Schicksal von Bauern, die, um reich zu werden, ihr Blut an Bluthändler verkaufen und sich tödlich infizieren. Reich wird am Ende nur der Sarghersteller. Suchen Sie sich bewusst absurde Stoffe aus?

Yan: Ich brauche sie nicht zu suchen. In Henan sind wegen Bluthandel ungezählte Bauern an Aids gestorben. Ich war siebenmal in den Dörfern. Die Realität bei uns ist grotesker als meine Romane. Denken Sie an den Milchskandal, bei dem Hunderte Pantscher, Babynahrung mit der Chemikalie Melamin streckten. Über 300000 Kleinkinder wurden krank..Oder an die vielen gekidnapptem Kinder und Behinderten, die in dörflichen Ziegeleien als Arbeitssklaven endeten.

Standard: Wie stark leiden sie unter den Zensur?

Yan: Bei uns passieren bedauerliche Dinge. Aber im Vergleich zur Lage der Autoren in den 30 Jahren nach 1949 hat sich viel verändert. Noch Anfang der achtziger Jahre wurde der Autor Bai Hua für eine eher harmlose Klage im Roman „Ku Lian" über den Umgang der Partei mit den Intellektuellen existenziell verfolgt. Wenn ich damals "Dem Volke dienen" veröffentlicht hätte, wäre ich wohl erschossen worden. In den neunziger Jahren hat die Zensur ihre Methoden geändert. Sie bestraft heute den Verlag und nicht den Autoren. Seit 1997 ist es auch möglich, ohne Repressalien verbotene Bücher in Hongkong oder Taiwan zu veröffentlichen. Für Peking gilt "ein Land zwei Systeme". Hauptsache: Das Festland bleibt "sauber".

Standard: Verlage drucken ihre neuen Bücher. Offizielle Zeitungen loben sie. Was ist da los?

Yan: Schriftsteller haben heute mehr Freiraum. Ein Grund ist sicher auch, dass ich keine politischen Aufsätze oder Polemiken, sondern Literatur schreibe. Von meinem neuen Roman 2009 „Wo yu fubei" (Ich und meine Vorväter), wo ich über meine Rückkehr zu den bäuerlichen Wurzeln unter heutiger Sicht reflektiere, sind schon 220000 Exemplare verkauft. Verlage und Medien lassen sich nicht mehr alles gefallen, die Zivilgesellschaft entwickelt sich auch weiter..Dennoch gibt es Grenzen. Während der Olympischen Spiele untersagten die Zensurbehörden öffentliche Kontroversen. Die Medien durften in dieser Zeit meinen Namen nicht einmal nennen. 

Standard: Ist China nicht zu früh Gastland einer Buchmesse, die Plattform für die freie Debatte ist?

Yan: Im Gegenteil. Ich hätte mir sogar noch früher gewünscht. Die Form, in der das stattfindet, hätte aber besser vorbereitet sein können. Dann wäre es nicht zum Eklat am Anfang gekommen. Daraus haben und werden aber alle Beteiligten Lehren ziehen. Ich bin sicher, dass der Buchmessenauftritt der Öffnung des Verlagswesens beschleunigen hilft und gut für uns Autoren sein wird. Das sage ich, obwohl ich außen vor bleiben muss.
Standard: In ihrer neuen Novelle "Frühlingserwachen im Pfirsischgarten" stehen am Anfang Dorfbauern unschlüssig herum, die nicht wissen, was sie machen sollen. Einer schlägt vor. "Gehen wir nach Hause und verprügeln unsere Frauen." Warum steigen sie so ein?

Yan: Ich stamme aus Henan und bin jedes Jahr ein paar Mal dort. Erst mit 20 habe ich mein Dorf verlassen. Wenn ich empfinden kann, was die Menschen in meiner Heimat Henan umtreibt, kann ich auch nachfühlen, was in ganz China los ist. Ich selbst fühle mich wie im Spagat zwischen Stadt und Land, wo die Unterschiede mir die Beine auseinanderziehen. Die meisten Menschen, ob Bauern oder aus anderen Schichten, wissen heute nicht, wo und wofür sie stehen. Sie leben in einer ständigen, diffusen Anspannung, einer inneren Unruhe, die sich nicht entladen kann. Die Gründe dafür sind sehr kompliziert. Ich beschreibe ein Phänomen unserer Umbruch-Gesellschaft, sorge mich über das Kommende: Heute schlagen sie ihre Frauen, wer weiß, was sie morgen tun? (Johnny Erling, DER STANDARD/Printausgabe 13.10.2009)