Der zweite Mann von links ist Bestsellerautor Alain de Botton.
Foto: Richard Baker 

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Abholrituale interessieren ihn ebenso wie die Flughafenlogistik.
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DER STANDARD: Sie verbrachten eine Woche im neuen Terminal 5 in Heathrow als "writer in residence". Normalerweise leisten sich Städte einen Stadtschreiber, nicht Flughäfen. - Glauben Sie nicht, dass das ein PR-Gag des Flughafeneigners war?

Alain de Botton: Das Konzept eines "writer in residence" ist faszinierend, weil Schriftsteller in der Regel sehr versteckt, in ihrem Elfenbeinturm agieren. Deswegen war ich sehr davon angetan, dazu eingeladen zu werden, meinen Turm zu verlassen und einen Platz im wirklichen Leben zu besetzen. Ich denke, es ist die Pflicht eines Schriftstellers, sich mit der Komplexität und den Herausforderungen der modernen Politik und Wirtschaft zu beschäftigen. Es gibt immer die Versuchung, sich zurückzuziehen, aber je älter wir werden, desto mehr Einblick gewinnen wir. Natürlich verfolgte der Flughafen seine eigenen Interessen mit meinem Projekt, aber ich bin völlig unabhängig und habe von Anfang an gewarnt, dass ich sagen werde, was ich will. Nur auf dieser Basis können die Leser dem vertrauen, was ich schreibe.

DER STANDARD: Was hat Sie am Flughafen interessiert? Was hat Sie überrascht?

Alain de Botton: Das Problem an Flughäfen ist, dass wir es in der Regel eilig haben, wenn wir dort sind - und weil es so schwierig ist, den Weg zum Gate zu finden, schauen wir uns normalerweise nicht um. Dabei verdienen Flughäfen definitiv einen zweiten Blick - sie sind die Imaginationszentren der modernen Welt. Hier findet man in einer konkreten Form all die Themen unserer Zeit, auf die man sonst nur in abstrakter Form in den Medien trifft. Hier sehen wir Globalisierung, Umweltzerstörung, Konsumorientiertheit, den Zusammenbruch der Familien.

DER STANDARD: Sie beschreiben verschiedene Zonen des Flughafens wie das Flughafenhotel, den Self-Check-in, die Wechselstube, die Buchhandlung etc. Mehr als an der Flughafenlogistik scheinen Sie aber an den Gefühlen der Reisenden interessiert zu sein - warum das?

Alain de Botton: Ich muss gestehen, dass ich fast alles am Flughafen faszinierend finde, sei es ein küssendes Paar beim Abflugschalter oder das Gepäcksystem. Nach meiner Woche am Flughafen bedaure ich das Ungleichgewicht zwischen dem Aufwand, der in die Unterhaltung der Passagiere gesteckt wird, und der wenigen Zeit, in der sie etwas über all die Arbeit erfahren, die ihre Reisen erst ermöglicht. Keiner zum Beispiel scheint es zu schätzen, um wie viel spannender es ist, zuzusehen, wie ein Airlinemenü hergestellt wird, als ein solches zu essen. Nur eine Meile vom Terminal entfernt, in einer fensterlosen, gekühlten Fabrikationshalle, die der Schweizer Firma Gate Gourmet gehört, werden achtzigtausend Frühstücke, Mittag- und Abendessen, die innerhalb der nächsten 15 Stunden irgendwo in der Troposphäre zum Verzehr bestimmt sind, von einer Gruppe von Frauen aus Bangladesch und den baltischen Ländern hergestellt. Ich sah, dass die Korean Airlines Fleischbrühe servieren würde, die JAL Lachs Teriyaki und Air France Hühnerschnitzel auf Karottenpüree. Essen, das später auf die diversen Fluglinien und Destinationen aufgeteilt wird, ist jetzt durcheinandergemischt wie die Passagiere im Terminal, sodass tausende Teller mit Humus für Dubai im Kühlraum neben vier Kisten mit Graved Lachs für die SAS zu stehen kommen, die für Stockholm bestimmt sind.

DER STANDARD: Warum beschreiben Sie die Screens in der Abflughalle als das "Versprechen eines neuen Lebens"? Ist das nicht eine sehr romantische Vorstellung vom Reisen?

Alain de Botton: Wir alle haben eine nomadische Seite an uns, eine Seite, die rastlos ist. Für sie ist der Flughafen eine Art von spiritueller Heimat, weil er ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Jeden Moment gibt es die Chance, an einen fernen Ort zu fliegen. Wir haben vielleicht nicht die Möglichkeit, selbst zu fliegen, aber das bloße Bewusstsein der ständig startenden Maschinen hat etwas Erhebendes und Erlösendes.

DER STANDARD: Weil Reisen heutzutage so einfach geworden ist, sind Sie der Meinung, dass wir kapieren, dass unsere Heimat nur "eine von vielen möglichen Welten" ist - ist das nicht eine sehr optimistische Sicht?

Alain de Botton: Es ist immer eine große Erleichterung, uns in einen Kontext zu setzen - und daraufzukommen, dass das, was uns "normal" erscheint, eigentlich ziemlich ungewöhnlich ist. Das ist das, was uns das Reisen lehrt. Es lässt uns unseren Horizont erweitern, sodass wir überrascht von unseren Reisen zurückkommen, aber auch überrascht über unsere Heimat sind. Erst die Abreise macht das Heimatland spannend und besonders.

DER STANDARD: Sie beschreiben den Terminal 5 als einen Ort großer Emotionen, Menschen küssen sich hier, als ob sie sich niemals wiedersehen würden. Was war für Sie die ergreifendste Szene?

Alain de Botton: Ich traf einen Mann, der mit seiner Frau, die an einem unheilbaren Hirntumor litt, zu den Ferien seines Lebens nach Bali aufbrach. Sie ruhte sich in einem Rollstuhl mit einer kompliziert aussehenden Beatmungsmaschine aus. Sie war 49, und bis letzten April, als sie an einem Montagmorgen mit leichtem Kopfweh zur Arbeit gegangen war, hatte sie vollkommen gesund geschienen. Ein anderer Mann erklärte mir, dass er seine Familie in London besucht habe, dass er aber eine zweite in Los Angeles habe, die nichts von der anderen wisse. Er hatte fünf Kinder und zwei Schwiegermütter, aber nichts in seinem Gesicht ließ darauf schließen.

DER STANDARD: Was macht einen Flughafen zu einem erträglichen Ort?

Alain de Botton: Wir haben hier die Chance, Hochtechnologie in Aktion zu sehen. Flughäfen sind die einzigen Handelsplätze, wo Menschen sich aufhalten, ohne ein Business zu betreiben. Denken Sie an die Leute, die immer mit Ferngläsern im Terminalrestaurant herumsitzen, um sich die Flugzeuge anzusehen. Wir können viel von ihnen lernen!

DER STANDARD: Sie schreiben, dass die Menschen das Reisen so sehr lieben, weil sie das Glück immer anderswo vermuten. Ist das nicht traurig?

Alain de Botton: Ja, es ist richtig, dass wir oft nicht bedenken, wie schwer es fällt, im Urlaub glücklich zu sein. - Es gibt einen Kontrast zwischen dem enormen, unkalkulierbaren finanziellen Aufwand - auch dem zulasten der Umwelt -, dem Bau von Terminals, Flugpisten und Flugzeugen, und den zugrunde liegenden psychologischen Knoten, die ihn untergraben.

DER STANDARD: Haben Sie sich bei Ihrer Woche auf dem Flughafen jemals gelangweilt und wollten schnell den nächsten Flug irgendwohin nehmen?

Alain de Botton: Nie - ich war traurig, als meine Zeit um war. Ich bin ein seltsamer Mann ...

DER STANDARD: Haben Sie je einen Flug versäumt, oder sind Sie eher der Typ, der immer zwei Stunden zu früh am Flughafen ist? Haben sich Ihre Gewohnheiten nach Ihrem Aufenthalt am Terminal 5 geändert?

Alain de Botton: Ich komme immer zwei Stunden zu früh. Und ich freue mich sogar, wenn es eine Verspätung gibt! Während wir die Pünktlichkeit gemeinhin als das Herzstück einer gelungenen Reise verstehen, habe ich mir oft gewünscht, dass mein Flug Verspätung hat, so dass ich gezwungen bin, mehr Zeit am Flughafen zu verbringen. Ich habe dieses Gefühl selten mit anderen Menschen geteilt, aber so ganz für mich habe ich oft auf eine hydraulische Schwäche des Fahrwerks oder auf ein Gewitter im Golf von Biscaya gehofft, auf eine Nebelbank in Malpensa oder einen Streik im Kontrollturm von Málaga. Ich habe mir sogar eine so große Verspätung gewünscht, dass ich einen Essensgutschein oder gar eine Nacht im Airporthotel auf Kosten der Fluglinie bekomme.

DER STANDARD: Hat Sie Ihre Familie nach der Woche am Flughafen abgeholt?

Alain de Botton: Nein, dieses Mal haben sie mich abgeschrieben - sie sprechen kaum noch mit mir. (Tanja Paar/DER STANDARD/Rondo/9.10.2009)