Berlin/Stockholm - Die Berliner Schriftstellerin Herta Müller ist nach Überzeugung der schwedischen Nobelpreis-Juroren eine Autorin mit "herausragender schöpferischer und moralischer Intelligenz". Der Jury-Chef der Schwedischen Akademie, Peter Englund, sagte in einem Kurzinterview nach der Vergabe des Literaturnobelpreises an Müller auf Fragen nach ...

... Müllers unmittelbarer Reaktion: "Wir hatten nur eine einzige Telefonnummer von ihr, da war ich selbst ganz schön nervös (lacht). Als wir dann Punkt 12.30 Uhr bei ihr zu Hause anriefen, hat ihr Mann abgenommen, er gab dann weiter. Herta Müller war sehr, sehr glücklich, völlig überwältigt und lachte so ein herrliches Lachen. Ihr fehlten erst mal ganz einfach die Worte. Aber sie versprach, dass sie bei der Verleihung in Stockholm am 10. Dezember die Sprache wiedergefunden hat. Sie meinte auch, das Ganze sei für sie nicht real.
... Englunds Verhältnis zu Müllers Büchern: "Ich habe alles von ihr gelesen. Sie ist auf der einen Seite eine sehr eigenwillige Prosaistin mit einer ganz eigenen Stimme. Was mich persönlich so beeindruckt, ist ihre Fähigkeit, derart viele verschiedene Dinge zugleich zu behandeln. Ein zentrales Thema ihrer Autorenschaft ist ja die Entfremdung. Nicht nur gegenüber einem unterdrückenden, korrupten, stagnierenden politischen System wie in Rumänien. Sondern auch als sprachliche Minorität, und auch in der eigenen Stadt, gegenüber den Individuen dort, den Eltern, dem eigenen Hintergrund. Sie verfügt über eine schöpferische und moralische Intelligenz, die mich tief beeindruckt. Ihr aktueller Roman "Atemschaukel" hat mich stark berührt. Sie hat eine fantastische Art, wirklich auch ihre ganz eigene Art, sich dem Thema Lager zu nähern. Dass sie politisch und historisch engagiert ist, hat für unsere Entscheidung eigentlich keine Rolle gespielt. Auch nicht, dass die Mauer vor 20 Jahren gefallen ist. Aber ihr Engagement gibt ihr natürlich eine zusätzliche moralische Kraft."
... zum Trend, dass Literaturnobelpreise seit 1999 allein dreimal in deutschsprachige Länder und fast immer nach Europa gingen: "Ich könnte mich dahinter verstecken, dass ich letzten Endes vor allem Historiker bin. Aber vielleicht spiegelt sich darin teilweise die Rückkehr von Zentral- und Osteuropa wieder. Und im Übrigen ist es natürlich sehr erfreulich, den Nobelpreis an eine Frau zu vergeben. Wobei das für die Entscheidung nicht die geringste Rolle gespielt hat. Herta Müller ist einfach gut und alles andere als eine Quotenfrau."

"Was sollte ich schon sagen zum Nobelpreis?"

Noch einen Tag vor der Bekanntgabe des Literaturnobelreises hatte sich Herta Müller skeptisch über ihre Chancen geäußert. "Ich glaube nicht daran, ins Gespräch kommt man ja immer, aber das machen die dieses Jahr nicht", hatte sie in Berlin gesagt. "Was sollte ich schon sagen zum Nobelpreis? Dass ich mich freue ist doch klar. Natürlich wäre ich auch glücklich. Aber ich bin kein Star und mag auch nicht in die Öffentlichkeit gezerrt werden. Ich mache meine Arbeit wie gewohnt im Stillen weiter."

Die Autorin glaubte auch aus einem ganz bestimmten Grund nicht an den Nobelpreis: "20 Jahre Mauerfall und dann komme ich mit so einer alten Deportationsgeschichte".  "Ich habe mich nie mit Hitlisten oder Favoriten befasst, wie oft ist Philip Roth genannt worden. Ich mache meine Arbeit. Natürlich habe ich nichts gegen eine Auszeichnung, aber ich fiebere nicht. Ich habe so viele Nerven schon seinerzeit verloren, ich bin abgebrüht."

Aber sie freue sich natürlich über den Erfolg ihres jüngsten Buches "Atemschaukel". Der Roman über die in ihrer rumänischen Heimat lange tabuisierte Deportation deutschstämmiger Rumänen Ende des Zweiten Weltkrieges und nach 1945 in die damalige Sowjetunion hat große Aufmerksamkeit und zum Teil auch enthusiastische Kritiken ("Meisterwerk") gefunden. "Schon damit habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet, so eine alte Geschichte und doch so wichtig, erzählt zu werden. Oskar Pastior hätte es natürlich sehr gefreut, vielleicht sogar mehr als mich. Er wollte aber, dass es das Buch gibt. Es war meine Trauerarbeit, darüber darf man eigentlich auch kein schlechtes Buch schreiben." Der Büchner-Preisträger Pastior, mit dem sie noch zusammen an ihrem Buch gearbeitet hatte, war 2006 gestorben.

"Es ist noch nicht im Kopf angekommen" - Pressekonferenz gestürmt

 "Ich weiß es, aber ich glaube es noch immer nicht", sagte  Herta Müller  am Nachmittag bei einer kurzfristig anberaumten, komplett überfüllten Pressekonferenz im Berliner Büro des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. "Es ist noch nicht im Kopf angekommen", sagte Müller, die von der Auszeichnung zu Hause erfahren hatte. Zu Beginn der Pressekonferenz gratulierte der Staatsminister für Kultur, Bernd Neumann, der neuen Nobelpreisträgerin. "Ich habe es nicht erwartet. Ich kann noch nicht darüber reden", versuchte Müller sich der auf sie einstürmenden Fragen zahlloser internationaler Journalisten zu erwehren. "Ich brauche noch Zeit, es einzuordnen. Das sind Bücher, die fertig sind, aber das bin nicht ich."

"Ich werde jetzt nichts Besseres oder Schlechteres." Müller war  darum bemüht, durch die Auszeichnung nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. "Es ist immer noch eine äußere Sache", sagte sie über den Preis. "Die Innere ist das Schreiben. Das hat mir immer Halt gegeben." Sie werde von nun an "nicht ständig mit einer Ahnengalerie von Nobelpreisträgern im Kopf herumlaufen".

"Ich habe nach jedem Buch gedacht: Genug, ich will nicht mehr", antwortete die 56-jährige Schriftstellerin auf die Frage, ob sie fürchte, wie andere in relativ jungen Jahren Ausgezeichnete nach der Preisverleihung nicht mehr schreiben zu können. "Nach zwei Jahren habe ich doch wieder geschrieben. Ich habe keine Angst, ich bin ja dieselbe Person." Andernfalls wäre es Abhängigkeit, so wie etwa Kollegen nach dem Zusammenbruch von Diktaturen nicht mehr schreiben könnten, weil ihnen der Feind verloren gegangen sei.

Auch in ihrer Reaktion auf die Preisbegründung versuchte die Autorin, dem Nobelpreis Normalität abzugewinnen: "Das ist eine Art wie Besprechung von Büchern", sagte sie. "Ich habe überhaupt kein Vertrauen in die Sprache. Sie entsteht durch den Text. Das geht nur künstlich. Das muss alles aufgelöst und wieder aufgebaut werden, dass es wieder der Realität entspricht."

Angesprochen auf ihre eigene Identität sagte die rumäniendeutsche Herta Müller: "Ich bin insofern deutsche Schriftstellerin, als ich auf Deutsch schreibe. Die deutsche Sprache schreibt auch immer mit." Rumänisch habe sie erst mit 15 Jahren gelernt. "Insofern weiß ich nicht, was ich bin. Etwas von allem oder nichts von beidem." In ihrem Werk habe sie sich stets mit der Diktatur ihres Heimatlandes beschäftigt, wie es dazu habe kommen können. "Ich glaube nicht, dass ich noch verfolgt werde, aber wenn ich in Rumänien bin, zeigt mir der Geheimdienst, dass es ihn noch gibt", sagte sie. "Ob sich das jetzt ändert, weiß ich nicht. Auch nicht, warum ich noch für den Geheimdienst interessant bin." Sie könne dem Land nichts anhaben, sei nicht Wissenschafterin, mache keine Erfindungen. "Es ist absolut nutzlos zu wissen, was ich denke oder schreibe", sagte Müller.

Am Schluss der halbstündigen Pressekonferenz überbrachte der Staatsminister für Kultur, Bernd Neumann (CDU), Grüße der Bundeskanzlerin und einen Blumenstrauß, lobte "die Kraft der poetischen Sprache" der Ausgezeichneten und schloss an Müllers Ausführungen zu Rumänien an: "Es ist im 20. Jahr des Falls des Eisernen Vorhangs ein wichtiges Zeichen, dass jemand ausgezeichnet wird, der in seinem Werk gegen das Vergessen schreibt", sagte der Minister. "Sie stehen prächtig in einer Reihe großer Schriftsteller wie Böll oder Thomas Mann." Der schon vorher bestehende Weltrang Müllers sei durch den Nobelpreis bestätigt worden. "Wir sind stolz auf sie und die Auszeichnung", sagte Neumann. Müllers Antwortrede blieb ein schlichtes "Danke".

"Ich wollte eigentlich, dass sie Lehrerin bleibt"

Die in Berlin lebende Mutter der diesjährigen Literatur-Nobelpreisträgerin zeigte sich in einer ersten Reaktion sehr erfreut und voller Stolz. "Ich bin stolz auf sie und ich freue mich natürlich sehr, dass sie es geschafft hat. Sie wollte doch immer etwas erreichen", sagte die 84-jährige Catarina Müller. "Ich habe ihr vorher gesagt, du gehörst zu den Favoriten, und sie meinte nur: "Ja, von sechs anderen"."

"Es ist wirklich schön für sie, aber als Mutter wäre ich auch froh, wenn sie mehr bei mir wäre", meinte Catarina Müller. "Ich wollte eigentlich, dass sie Lehrerin bleibt, was sie ja mal angefangen hat. Der Beruf der Schriftstellerin war mir eigentlich nicht so recht. Man schläft doch auch ständig in anderen Betten bei diesen vielen Veranstaltungen und Lesereisen."

Die Mutter hat auch das jüngste Buch ihrer Tochter gelesen, "Atemschaukel", über das Schicksal der Deportationen Rumäniendeutscher in die Stalinlager. Sie war selbst fünf Jahre von 1945 bis 1950 in diesen Lagern. "Das waren die schlimmsten Jahre meines Lebens. Viele sind damals verhungert oder krank geworden. Das vergisst man nicht mehr. Ich habe ihr oft gesagt, was Kommunismus wirklich heißt. Ich verstehe auch nicht, dass es in Deutschland immer noch eine Linke gibt. Wenn die nur ein Jahr das durchgemacht hätten in diesen Lagern, würden sie heute anders reden und denken." (APA)