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Der Strand von La Pelosa.

Eine seltsame Melancholie liegt im rhythmischen Gesang der vier Herren, die auf dem Landgut hoch oben in den sardischen Bergen verschworen im Kreis stehen und ihre Stimmbänder zu archaisch klingenden Tönen formen. Der Tenor gibt mit gutturaler Stimme die Melodie und den Text vor, die anderen begleiten ihn mit einsilbigen Lautfolgen ohne Sinn, bis sich aus den zwischen dunkel und metallisch modulierenden Klängen ein schwebender Akkord ergibt, der sich dann und wann insistierend zu einer sprühenden Polyfonie steigert, um wieder in eine meditative Monotonie abzuebben.

"Der Gesang der Tenores ist wie eine Minestrone" , sagt Pietro Maria Sanna, während er in einer Gesangspause an seinem Rotwein im Plastikbecher nippt. "Es mischen sich darin alle verschiedenen Tonlagen zu einem einheitlichen Ganzen." Pietro Maria Sanna ist Bauer und Schafhirt - und Solist der "Tenores di Bitti" , einer jener zahlreichen Sängerformationen, die nur im zerklüfteten Hochland der Barbagia eine eigenwillige Gesangstradition pflegen, welche einsame Hirten begannen, als sie in summenden Selbstgesprächen ihre Umgebung, also das Blöken der Schafe, das Muhen der Kühe und das Sausen des Windes imitierten.

Viel mehr gibt es auch nicht zu erleben in den weiten Hügeln, genauso wenig wie es Noten oder Aufzeichnungen für die Gesänge der Tenores gibt. Dafür wird jede Speise mit den knusprigen Scheiben des sardischen Hirtenbrotes serviert, das auch carta di musica (Notenblatt) genannt wird.

Rückzugsorte für Rebellen

"Die Leute sind hier ganz anders als unten an der Küste" , sagt Pietro Maria Sanna mit Nachdruck. Worin der Unterschied genau besteht, bleibt allerdings unklar. Nur so viel: "Man kann es nicht verstehen, wenn man es nicht fühlt." Fest steht: Unten an der nördlichen Küste, allen voran der schillernden Costa Smeralda, regiert das Geld des Jetsets, der oberflächliche Glanz herausgeputzter, um Authentizität bemühter Nobel-Folkloristik.

Oben in den Bergen der Barbagia hingegen, wo sich die Dörfer wie Vogelnester in die Hänge drücken, geht es rauer zu:Ein von Schüssen durchsiebtes Verkehrsschild an der Serpentinenstraße in Richtung Bitti zeugt von den Entführern und Banditen, die sich bis in die 1980er-Jahre hierhin zurückzogen, da sie in der widerspenstigen Landbevölkerung Rückhalt fanden. Die rebellische und sozialkritische Ader der Sarden zeigt sich auch an den mittlerweile von den Hausmauern abblätternden Wandzeichnungen, den Murales. Es sind kraftvolle Bilder des Aufbegehrens und des Zorns, die sich insbesondere in Orgosolo finden.

Doch auch unten an der Küste gibt es vom Tourismus unbehelligte Rückzugsorte. Die kleine Insel Asinara, die sich vom nordwestlichsten Zipfel Sardiniens wegstreckt, ist so etwas wie ein lebendes Fossil:Uralte Distelarten, deren Stachelgeometrie weiße Blüten hervorbringt, korallenförmige rote Büsche, Myrten, Wacholder und wilde Oliven überwuchern wie ein struppiger Teppich die runden Felsen, die von fjordähnlichen Buchten geteilt werden. Auf dem Boden des Meeres, das hier aus flüssigem Saphir zu bestehen scheint, setzt sich die Vegetation in Form von einzigartig großen Feldern aus Neptungras fort. Seltene weiße Esel und wilde Pferde ergänzen die verwunschene Beschaulichkeit.

Diese ist ironischerweise allein der dramatischen Geschichte der Insel zu verdanken:1885 wurden alle Bewohner abgesiedelt, um ein Lazarett für Tuberkulose- und Malariakranke einzurichten, im Ersten Weltkrieg wurden austro-ungarische Kriegsgefangene dorthin verbannt, die großteils der Cholera zum Opfer fielen, und ab den 1930er-Jahren wurde das Eiland zum Italo-Alcatraz, schwer bewacht von auf der Insel verteilten runden Wachtürmen, die mittlerweile zu Ruinen verfallen sind.

Nur dem sardischen Banditen Matteo Boe und seinem Komplizen Salvatore Duras gelang die Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis mit Meerblick, wo bis 1998 prominente Mitglieder der Roten Brigaden und Mafiosi eingebuchtet waren. Heute wandeln Besucher respektvoll durch die tristen Zellen-trakte, bevor sie den herben Charme der 30 Kilometer langen Insel, die in einen geschützten Flecken Nationalpark umgewandelt wurde, entdecken. Die sardische Eigenwilligkeit ist auch hier spürbar - auch wenn das die Menschen in den Bergen nie zugeben würden. (Karin Krichmayr/DER STANDARD/Album, Printausgabe, 3.10.2009)