Im Brüsseler Büro mit Fraktionschef Daniel Cohn-Bendit:

Foto: Thomas Mayer

Vier Telefone, Notebook, Reisekoffer,

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Fotos aus 40 Jahren Politik,

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zwei Fauteuils auf etwa 20 Quadratmetern.

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Cohn-Bendit: Österreich ist ja entsetzlich, weil die politische Klasse läuft ja irgendwelchen Volksmeinungen und Volksströmungen hinterher.

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STANDARD: Sie haben 2001 gesagt, Ihr eigentliches Lebensziel sei es, Präsident zu werden. Den gibt es nach dem Irland-Referendum vielleicht schon bald. Haben Sie mit Nicolas Sarkozy und Angela Merkel schon gesprochen?

Cohn-Bendit: Wie? Präsident von was?

STANDARD: Der Vereinigten Staaten von Europa. So steht es in ihrer Biografie.

Cohn-Bendit: Ach was, das war eine witzige Bemerkung. Mein Lebensziel ist sicher nicht, Präsident zu werden von irgendwas. Mein politisches Ziel habe ich erreicht. Ich bin Europa-Abgeordneter, und als solcher fühle ich mich wohl. Ich bin jetzt noch eine zeitlang Vorsitzender der Fraktion der Grünen, und das ist, glaube ich, als Ziel völlig ausreichend.

STANDARD: Ich dachte mir, dass das ironisch war. Aber wenn man dann über sie und ihr politisches Leben nachdenkt, so hat die Ironie doch einen Hintersinn. Das eine ist, wenn einer Präsident werden will, dann will er Verantwortung übernehmen, und zwar für alle, für das große Ganze.

Cohn-Bendit: Nein, das war damals die Auseinandersetzung mit Kouchner, dem heutigen französischen Außenminister. Der wollte gerne Präsident von Frankreich werden. Ich habe gesagt, wenn sich etwas lohnt, dann Präsident der Vereinigten Staaten von Europa, das war die Auseinandersetzung. Aber das hat keinen realen Hintergrund. Verantwortung fürs Ganze tragen kann man auch als Abgeordneter im Europäischen Parlament, wenn man Einfluss hat. Mein Ziel ist sicherlich Einfluss zu haben. Das will ich haben, weil mit Einfluss trägt man Verantwortung. Darüber hinaus will ich nichts.

STANDARD: Verantwortung haben sie in Ihrem Leben viel gehabt, indirekt vielleicht mehr als direkt.

Cohn-Bendit: Indirekt bedeutet auch Einfluss.

STANDARD: Im Sinne von was?

Cohn-Bendit: Indem man Inhalte beeinflusst. Damit ist man Teil einer Bewegung, einer Entwicklung. Ich glaube, es ist falsch, Einfluss nur zu definieren über die Ebene der Minister, oder EU-Kommissare, oder Präsidenten. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Eine Gesellschaft muss sich ja bewegen, und gesellschaftlichen Einfluss zu haben ist Bewegung initiieren, oder möglich zu machen.

STANDARD: Der zweite inhaltliche Teil ihrer witzigen Ansage zielt auf die Vereinigten Staaten von Europa ab. Unübersehbar hat da einer einen Traum, den haben sie nicht aufgegeben, auch wenn er heute bei vielen reichlich unmodern zu sein scheint.

Cohn-Bendit: Diesen Begriff muss man weglegen. Es erinnert an die vereinigten Staaten von Amerika. So entsteht eine Vergleichsdynamik, die falsch ist. Aber ich habe nicht aufgegeben, dass dieses Europa sich noch viel mehr hin zu einer Integration entwickeln muss. Der historische Kompromiss, der mit dem Begriff Union gefunden wurde, der kann bedeuten, dass es viel weiter geht in Richtung einer integrierten Union.

STANDARD: Da wird man nun auf ihre Biografie zurückgeworfen. Es ist faszinierend, aber sie waren in der Tat in 40 Jahren Politik eine Art Trend-Scout, wie man heute sagen würde. Sie haben viele Dinge vorausgespürt, oft gegen den Mainstream, sei es die völlige Umorientierung von Kommunalpolitik, in den 70er und 80er Jahren in Frankfurt. In den 60ern waren sie ein strikter Gegner der totalitären Ideologien, in China wie in der Sowjetunion, als ihre linken Kampfgefährten Maobibellesungen veranstalteten. In den 90er Jahren waren sie einer der ersten, die einen Nato-Kampfeinsatz am Balkan und die militärische Rolle der Deutschen verlangt haben, und das als Grüner. Was spüren sie denn heute für Europa, wo stecken wir drinnen?

Cohn-Bendit: Europa ist an einem Scheideweg zwischen dem Sprung nach vorne oder Stagnation. Das wird sich ganz banal entscheiden mit dem EU-Vertrag von Lissabon, ob er sich durchsetzt, oder am Ende doch steckenbleibt, sei es am Nein der Iren oder dem Veto des tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus. Ich bin der Meinung, dass in Europa jetzt in den nächsten Jahren eine Reflexion einsetzen wird, die die Sinnfrage Europas ganz neu stellen wird.

STANDARD: Über die ideologischen, parteipolitischen Grenzen hinweg?

Cohn-Bendit: Ja, es geht um die Frage, können wir die Krisen, in denen wir stecken, die Finanzkrise, die ökologische Krise, die ökonomische, können wir das national lösen, oder bedarf es einer europäischen Lösung, und damit einer neuen Dynamik europäischer Integration. Wir leben in einer Zeit, wo die Deutschen sich zu ökonomischen Souveränisten entwickeln, also im Grunde genommen die europäische Karte sehr wenig gespielt wird. Wenn die Franzosen sie spielen, dann nur, weil sie glauben, davon konkret profitieren zu können. Das ist ein umgekehrter nationaler Ansatz: Weil sie sehen, dass Frankreich es allein nicht, spielen sie in einem bestimmten Sektor die europäische Karte.

STANDARD: Wird die ökonomische Realität das entscheiden?

Cohn-Bendit: Das Problem ist, dass die Realität nicht eindeutig in eine Richtung zwingt. Natürlich können die Staaten, das sah man in Deutschland am Duo Merkel/Steinbrück, die sind ja europaresistent. Es denkt im Grunde national, und glaubt sich national retten zu können.

STANDARD: Da hört man jetzt eine leise Sehnsucht nach dem alten Helmut Kohl durch.

Cohn-Bendit: Na ja, gut, wenn man die Verhandlungen von Amsterdam 1997 heranzieht, dann hat auch Kohl dort schon immer nein, nein, nein gesagt. Aber es ist richtig, wenn ich die Steinbrücks dieser Welt sehe: Ob die die EU-Integration parallel zur deutschen Vereinigung betrieben hätten wie Kohl, also den Euro vorangetrieben hätten, das bezweifle ich stark. Ja, diese Art von Politiker wie Steinbrück und Merkel, das sieht man jetzt, das sind nationale Zuckungen, die rückwärtsgewandt sind.

STANDARD: Das kennen wir in Österreich auch.

Cohn-Bendit: Da ist es ja noch schlimmer.

STANDARD: Es ist ein kleines Land.

Cohn-Bendit: Nein, das hat mit kleinem Land nichts zu tun. Das sind absolute Opportunisten. Österreich ist ja entsetzlich, weil die politische Klasse läuft ja irgendwelchen Volksmeinungen und Volksströmungen hinterher. Man ist nicht in der Lage, irgendeine Position zu beziehen und das öffentliche Leben dann auch zu gestalten. Das ist ja das Schreckliche in Österreich. In Deutschland laufen die nicht einer Meinung hinterher, das ist tiefe Überzeugung. In Österreich haben sie gar keine Überzeugung.

STANDARD: Ist das schlimmer geworden?

Cohn-Bendit: Ich denke, seit Kreisky ist es bergab gegangen. Das heißt nicht, das Kreisky immer Recht hatte, um Gottes willen, aber er hat eine Position bezogen, er hat Politik gemacht. Die letzte große Auseinandersetzung gab es zum Beitritt nach Europa. Ich hatte damals eine Fernsehdiskussion mit dem Maler Friedrich Hundertwasser. Und war völlig baff, als er den Beitritt zur EU und die Integration verglichen hat mit dem Einmarsch der Deutschen 1938.

STANDARD: Das war damals ein beliebtes Bild.

Cohn-Bendit: Diese Land, das den Nationalsozialismus nie aufgearbeitet hat, mit solchen wahnwitzigen Argumenten, also das hat mich schon geplättet.

STANDARD: Was wird denn mit all diesen kleinen Ländern passieren, wenn die wirtschaftliche Realität, wie sie sagen, die Integration vorantreibt? Die müssen ja alle ihren Platz suchen.

Cohn-Bendit: Ja, das Problem ist, wenn es keine europäische Entwicklung gibt, dann geht es zurück Richtung 19. Jahrhundert. Die großen Länder werden die Marschrichtung vorhgeben. Und die Kleinen werden sich nur den Schutz der Großen suchen können.

STANDARD: Nicolas Sarkozy hat wieder einmal einen Klimagipfel angekündigt, im Alleingang, an der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft vorbei.

Cohn-Bendit: Sarkozy versucht Europa zu instrumentalisieren, wenn es darum geht, Frankreich größer zu machen. Sarkozy nimmt in der ganzen Strategie die Energie, die Umweltkrise und so weiter, um die Rolle Frankreichs zu entwickeln. Er denkt mehr an Frankreich als an Europa. Er kann sich Europas bedienen. Ideal für ihn war, als er die EU-Präsidentschaft innehatte.

STANDARD: Das hat er genossen.

Cohn-Bendit: Ja, da war Frankreich und Europa eins. Er hat davon geträumt, dass das so weitergeht, die Faustsche Hoffnung des Verweile doch du bist so schön.

STANDARD: Aber was könnte man dem entgegensetzen, woher soll die Dynamik kommen?

Cohn-Bendit: Die kleinen Staaten werden alle merken, dass sie mit Finanzkrise und ökologischer Krise aus eigenem nicht fertig werden. Das heißt, aus eigenem Interesse wird ein stärkeres Europa nötig sein. Ich bin überzeugt, dass Politik nur funktioniert, wenn man eigenes Interesse hat.

STANDARD: Das bringt uns zu einer anderen Frage. Wenn sie von der Machtfrage sprechen, geht es immer um links-grün. Ich habe noch nie gehört von ihnen, dass auch die Christdemokraten Partner sein können.

Cohn-Bendit: Das ist nicht wahr, sie irren. Ich war in Frankfurt der erste der Kontakte geknüpft hat mit der CDU für Schwarz-Grün. Ich habe da überhaupt kein Problem. In den Städten gibt es ein bürgerlich-aufgeklärtes Potential der CDU, wo das klappt.

STANDARD: Und in Europa, wie soll das da gehen? Die Sozialdemokratie macht den Eindruck, ihr sei die moderne europäische Welt abhanden gekommen, die sind mit sich selber beschäftigt. Umgekehrt hat man den Eindruck, die Christdemokraten nehmen den Grünen die Ökothemen weg, siehe Schweden.

Cohn-Bendit: Schweden ist da ein anders Land. Die haben keine Angst vor hohen Steuern. Die Christdemokraten haben Ökosteuern eingeführt, sie haben 100 Euro pro Kilogramm CO2, wenn man das den Deutschen sagen würde, würden FDP und CDU zusammen Selbstmord begehen. Aber in Deutschland nimmt die CDU den Grünen die Themen nicht ab. In der Debatte Merkel-Steinmeier, da kam die ökologische Krise überhaupt nicht vor, das ist ja das Schreckliche. Die Atomenergie kam vor, aber die ist ja nicht die ganze ökologische Krise. Bei Merkel und der CDU ist das Ökologische inzwischen eine Pflichtübung. Aber das ist zu Ende. Die ökologische Krise wird alle zwingen, auch ökonomisch umzudenken. Deswegen wird es auch innerhalb einer rot-rot-grünen Entwicklung, da würde es eine tiefe gesellschaftliche Auseinandersetzung geben. Da würde man dann sehen, wie die CDU sich da einbringt, und dann würde man sehen, ob es schwarz-grün geben kann.

STANDARD: Aber auf europäischer Ebene sieht es doch so aus, als würden da nur die Christdemokraten als proeuropäische Kräfte halten, auch in der Ökokrise. Die Sozialdemokraten sind vor allem mit sich selber beschäftigt, stecken fast in allen Ländern in einer tiefen Krise. Wer wird denn die Probleme lösen, wer bietet sich da als Partner an?

Cohn-Bendit: Das bezweifle ich nicht. Sie sehen das richtig, dass die Sozialdemokraten so mit sich beschäftigt sind, dass man mit ihnen nicht über die Zukunft reden kann. Das ist wahr. Sie haben auch Recht, dass die Christkonservativen Europa ganz anders verinnerlicht haben als ein Teil der Sozialdemokraten. Aber das Problem ist doch auch, dass es eine Sonntagsredenselbstverständlichkeit ist. Wenn es konkret wird, dann schwächelt das. Da sehe ich eher einen deutschen Souveränismus der CDU. Das Credo der Konservativen ist in der Krise aufgefressen, von nationalen Interessen.

STANDARD: Das ist aber doch bei allen so.

Cohn-Bendit: Bei den Grünen nicht.

STANDARD: Es gibt aber doch bei den Grünen viele Vorbehalte gegen die neoliberale EU. Zugegeben, Organisationen wie Attac sind da schon weiter, setzen auf eine bessere EU.

Cohn-Bendit: Weil es auch nicht mehr geht. Wenn man die Globalisierung regulieren will, da kann man mir erzählen was man will, wenn man da nicht Europa als Hebel hat, dann hat man gar keinen. Österreich kann da nichts machen, die kleinen Länder können es vielleicht an die großen delegieren, sodass Deutschland mit Frankreich Lösungen findet. Aber das ist 19. Jahrhundert, Nationalstaatspolitik.

STANDARD: Aber nehmen sie den grünen Streit um Voggenhuber, dem wurde ja vorgehalten, ein abgehobener Europäer zu sein, EU-gläubig geradezu.

Cohn-Bendit: Ja, es gibt viele grüne Parteien, die angesichts der Krise im Grunde auch einer bestimmten Stimmung hinterherlaufen, die auch keine Klarheit haben in der Artikulation. Europa besser machen, ja, das ist ja immer gut. Aber nehmen sie unseren Wahlerfolg in Frankreich. Wir haben klar gesagt, Europa, wie es ist, ist nicht genug, wir brauchen mehr Europa, um die Probleme zu lösen. Das war eine eindeutige Position.

STANDARD: Wie haben Sie denn das gemacht, dass sie fast die Sozialisten überholt haben bei den EU-Wahlen? Das kann ja nicht nur an der Person Cohn-Bendit gelegen haben, dass ein Deutscher nach Frankreich kommt, um die Leute zu überzeugen.

Cohn-Bendit: Sie machen einen Fehler in ihrer Analyse. Ich bin kein Deutscher, ich bin sowohl als auch. Das wird ja auch in Frankreich so gesehen. Ich bin ja auch eine Ikone der französischen Geschichte, ich gehöre ja zum Geschichtsbuch in Frankreich durch den Mai 68.

STANDARD: Es ist lustig, dass sie das jetzt so einfach über sich selber sagen.

Cohn-Bendit: Was denn?

STANDARD: Na, dass sie eine Ikone sind. Das müsste ja jetzt eigentlich ich sagen, voller Bewunderung.

Cohn-Bendit: Ja aber das ist so, was soll ich denn da drum rummachen. Wenn sie mit mir durch Paris laufen würden oder durch Frankreich, da würden sie es sehen. Das spürt man.

STANDARD: Werden sie heute von Gaullisten manchmal noch beschimpft?

Cohn-Bendit: Nein, ich werde sehr wenig beschimpft. Was wir mit den Grünen geschafft haben ist, wir haben glaubwürdig dargestellt, dass das ganze Umfeld der Ökologie, alle die zerstrittenen Gruppen, dass die angesichts der Krisen zusammenfinden muss. Wir haben Befürworter und Gegner des EU-Verfassungsvertrages zusammengebracht, wir haben die Spaltung überwunden, das hat fasziniert. Wir haben die Schwäche der Sozialisten und auch von Bayrous Zentrum herausgekitzelt. Unsere Stärke hat deren Schwäche beleuchtet. Ich habe zum Beispiel gesagt, es geht mir auf den Geist, dass es immer nur gegen Nicolas Sarkozy geht. Dann hat man gesagt, was das soll: ob ich für Sarkozy bin? Dann habe ich gesagt, nein, ich bin nicht für Sarkozy, ich bin für Europa. Und dort unterscheide ich mich von ihm, dass das Entscheidende das europäische Projekt sei. Das war in dieser Wahl der Trumpf.

STANDARD: Kann es da auch in anderen Ländern größere Verschiebungen von den linken Parteien zu den Grünen geben, eben wegen der Europafrage?

Cohn-Bendit: Das glaube ich auch. Wenn die Grünen es schaffen, und da hat man ja angefangen, mit dem grünen new deal, die notwendige Transformation des Kapitalismus zu verbinden mit einer europäischen Positionierung, dann haben sie einen Inhalt und eine politische Argumentation, die sie in teilen der Gesellschaft einmalig macht. Davon bin ich überzeugt. Das war im Ansatz das, was wir bei der Europawahl in Frankreich geschafft. Das ist ja der Grund meiner Kritik am Wahlkampf der deutschen Grünen, die sind das zu zaghaft angegangen.

STANDARD: Wo sehen sie denn Chancen für die Grünen?

Cohn-Bendit: In den traditionellen Ländern der Union, in Frankreich, Deutschland, auch in Österreich, in Holland. Schwach sind wir im Süden, und auch in Osteuropa. Dort ist es so wie bei uns in den 60er und 70erJahren. Grün bedeutet ja einen radikalen Paradigmenwechsel.

STANDARD: Grün sein muss man sich leisten können.

Cohn-Bendit: Oder es muss die Wachstumskrise so stark sein, dass es offensichtlich nicht so weitergeht. Das kann man auch umdrehen. Offensichtlich müssen Gesellschaften so lange einen falschen Weg gehen, ehe man umdreht und sagt, aha, so geht’s nicht weiter.

STANDARD: Stichwort Ikone. Wie kommt es, dass vor allem ältere, ganz prononcierte Proeuropäer wie Sie, oder der frühere finnische Präsident Ahtisaari, oder die frühere lettische Präsidentin Vike-Freiberga, bei den Jungen so gut ankommen, dass sie die Leute faszinieren können?

Cohn-Bendit: Das wesentliche meiner Geschichte ist die Emigration meiner Eltern. Sicherlich gibt es eine Generation, die viel näher am Krieg war, die Europa ganz anders verinnerlicht hat und daraus ihre europäische Position ableiten. Ich habe den Krieg ja nicht erlebt, kenne das durch die Erzählungen meiner Eltern. Die interessante Frage ist, wie wird die neue Generation aus der Krise heraus ihr europäisches Bewusstsein entwickeln. Das ist die offene Frage.

STANDARD: Halten sie ein Zusammenbrechen der Union für möglich, einen Rückfall?

Cohn-Bendit: Es gibt nichts, was nicht zurückgeschraubt werden kann. Jeder trägt die Verantwortung dafür, dass es weitergeht. Wenn man die nicht wahrnimmt, dann kann es natürlich den Rückfall geben. Man kann ein Szenario beschreiben, dass trotz eines Ja der Iren der tschechische Präsident Klaus den Lissabon-Vertrag nicht unterschreibt. Dann kommt der britische Konservative David Cameron als Premierminister, dann wird als erstes das Projekt der politischen Union abgewickelt, und schon kommt man zu einer Freihandelszone, Punkt. Daneben gibt es ja jetzt schon die großen EU-Staaten, die Politik machen wie im 19. Jahrhundert.

STANDARD: Was passiert, wenn die Iren Nein sagen?

Cohn-Bendit: Dann wird die Tendenz, die es jetzt schon gibt, noch stärker geben. Die großen Staaten geben den Rhythmus vor, und die kleinen werden sich dranhängen. Die Substanz der Europäischen Union würde langsam aber sicher zerfallen. Dagegen wird es so Leute wie mich geben, die würden sagen, so jetzt gehen wir das Ganze noch mal an. Man würde die Verfassungsfrage noch mal ins Zentrum der Auseinandersetzung stellen, das Feld sozusagen von hinten aufräumen.

STANDARD: Also dort wieder beginnen, wo man 2001 angefangen hat.

Cohn-Bendit: Ja, und man müsste die europäischen Gesellschaften zwingen hin zu der Frage europäische Verfassung und Volksentscheid. Die Völker sollen dann in den nächsten fünf bis zehn Jahren entscheiden, ob sie mit diesem Europa weitermachen wollen, oder ob man das Projekt abwickelt. Diese Auseinadersetzung müsste man von unten her aufrollen.

STANDARD: Und wenn Lissabon durchgeht?

Cohn-Bendit: Dann wird sich langsam aber sicher bei bestimmten Fragen ein Konflikt entwickeln zwischen Nationalstaaten und Europäischen Interessen. Das wird die nächsten Jahre bestimmen. Die Regierungen wissen nicht, was sie tun, die werden sich noch wundern, wie Europa gestärkt sein könnte. Beim Parlament hat man das ja in den vergangenen Monaten gesehen. Man ist nicht immer in der Lage, seine Macht auszuspielen.

STANDARD: Aber das Parlament hat doch seit 20 Jahren stark an Kompetenz gewonnen.

Cohn-Bendit: Was sich durchsetzt ist die normative Macht der Institutionen und ihrer Strukturen. Indem sie das Mitentscheidungsrecht weiterentwickelt haben, haben sie dem Parlament ein ganz anders Selbstbewusstsein gegeben.

STANDARD: Erwarten sie außenpolitisch einen größeren Sprung? Der frühere Präsident Giscard d’Estaing hat uns in einem Interview gesagt, die gemeinsame Außenpolitik werde der nächste große Sprung der Union nach der Währungsunion sein, dringend nötig.

Cohn-Bendit: Hat er Ihnen auch etwas über Lady Di erzählt?

STANDARD: Nein, hat er nicht, wieso? Sie meinen vom angeblichen Verhältnis, das er in seinem neuen Roman Der Präsident und die Prinzessin anspricht.

Cohn-Bendit: Das ist ja ein Schlawiner. Wie ein alter Mann sich sexuell, wie er es schafft, sich so ins Zentrum zu stellen, alle fragen sich, schafft er das, konnte er das noch?

STANDARD: Die Franzosen sind offenbar sehr amüsiert, die Briten schockiert.

Cohn-Bendit: Na ja. Wer Giscard kennt weiß, dass er es sicher probiert hat. Es gibt keine schöne Frau, wo er es nicht probiert hat. Und jetzt kann jeder phantasieren, ob es geklappt hat oder nicht.

STANDARD: Auf jeden Fall ein bizzarer Roman.

Cohn-Bendit: Es ist von ihm pervers gut eingefädelt.

STANDARD: Jetzt habe ich den Faden verloren.

Cohn-Bendit: Sie waren bei Giscard, bei der Außenpolitik.

STANDARD: Also Giscard hat gemeint, nur wenn Europa es schafft, eine kohärente Außenpolitik neben der Wirtschaftspolitik zu schaffen, dann wird Europa erst weiterkommen in der Welt.

Cohn-Bendit: Das Problem ist, dass die Außenpolitik von den Großen dominiert wird. Nur wenn der EU-Außenminister es schafft, alle diese Kräfte einzubinden, wird er eine Chance haben. Ansonsten riskiert er, nur eine Marionette zu sein, der Sarkozys und Merkels dieser Welt. Wenn man einen starken Außenminister wollte, schwächt man die Länder.

STANDARD: Wer wäre denn ein guter Außenminister? Joschka Fischer?

Cohn-Bendit: Der Joschka ist so weit von der Politik inzwischen, das ist keine realistische Perspektive. Ich bin da ratlos. Ich sehe den Willen nicht, sich hinter ihm so zu sammeln, dass man wirklich eine europäische Außenpolitik hat. Europäische Außenpolitik ist ja nicht die Summe der einzelnen Außenpolitiken. Das hat man ja in Bosnien gesehen.

STANDARD: Welcher Typ soll das sein?

Cohn-Bendit: Es muss jemand sein, der Erfahrung hat, und der überzeugt ist von der Notwendigkeit einer Redynamisierung des Europäischen Projekts.

STANDARD: Wolfgang Schüssel?

Cohn-Bendit: Ne, der ist wirklich einer von diesen Opportunisten. Wer mit dem Haider paktiert hat, der hat kein Rückgrat. Ich meine, das stimmt auch für die österreichischen Sozialdemokraten, der Faymann da und sein Flirt mit der Kronenzeitung und so. Das will ich jetzt nicht nur bei den Konservativen ablassen. Ich muss ehrlich sagen, diese Macht der Kronenzeitung ist schon ein demokratisches Problem, wenn die Politik sich so unterwirft. (Langfassung des in DER STANDARD, Printausgabe, 2.10.2009 erschienenen Interviews)