Innerhalb eines Jahres hat Frau Rubin das Lesen und Schreiben nachgelernt.

Foto: Kapeller

Fehler passieren der 44-Jährigen nur noch selten ...

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... mittlerweile überwiegen die Erfolgserlebnisse, sagt auch ihre Kursleiterin Brigitte Bauer.

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Silvia Rubin ist sehr konzentriert, als sie mit dem Bleistift Worte aufs Papier schreibt. "Spielen, malen, schreiben, lesen", notiert sie nacheinander. Manchmal grübelt sie, spielt mit ihrer blauen Haarspange. Dann nimmt sie den Radiergummi, sie lächelt, mehr ärgerlich als verlegen, und fährt über das Blatt. Vor einem Jahr ist die 44-jährige Frau Rubin es noch einmal angegangen: das Lesen und Schreiben.

Die dreifache Mutter sitzt im Kurs von "abc - Salzburg", einem Basisbildungszentrum für Erwachsene. So wie jede Woche. Das erste Mal kam Frau Rubin im März 2008 hierher, sie weiß noch genau an welchem Tag, "weil ich mich so geschämt hab'. Ich hab gedacht, ich bin die einzige, dabei gibt es so viele Menschen."

Vom Schulsystem abgeschrieben

In der Tat: In Österreich leben laut Schätzungen zwischen 300.000 und 600.000 Menschen mit Grundbildungsbedarf, manche sagen noch deutlich mehr. Das heißt: Menschen, die Lesen, Schreiben, Rechnen oder Computer-Kenntnisse erst mühsam erlernen müssen. Nicht nur in Salzburg sind die Kurse voll mit Erwachsenen, die Texte kaum entziffern können oder am Ein mal Eins scheitern. Wie kann das sein in einem Land, das sich gerne seiner guten und teuren Schulen, seiner Bildungsgerechtigkeit rühmt?

"Es ist ein Kreislauf: Die Menschen begeben sich in eine große Abhängigkeit und lernen das Lesen und Schreiben nie richtig. Sehr oft kommen sie aus kinderreichen Familien, und ihre Eltern können sie während der Schulzeit nicht unterstützen", sagt Brigitte Bauer, die Leiterin von "abc - Salzburg". Silvia Rubin ist das beste Beispiel dafür, wie ein individuelles Schicksal und ein gar nicht so gerechtes Schulsystem zusammentreffen.

Frau Rubin war als Kleinkind schwer krank geworden. In die Volksschule kam sie nie, sondern gleich in die Sonderschule. Dort saß sie dann auch mit geistig behinderten Kindern in einer Klasse. Die Salzburgerin wollte gern Frisörin oder Kindergärtnerin werden. "Da hat's dann aber geheißen, das geht nicht, weil du in der Sonderschule warst", sagt sie ein wenig wehmütig.

Leben ohne Schrift

Seit sie 15 Jahre alt war, hat sich die stämmige Frau mit Hilfsjobs durchschlagen müssen: als Putzkraft oder im Gastgewerbe. Nicht als Kellnerin freilich, "als Abwäscherin, weil so hast mit den Leuten nicht viel zu tun", erzählt sie. Eine typische Biografie von Menschen, die das Lesen und Schreiben nie richtig erlernt haben: Man schummelt sich durch, zunächst in der Schule mit dem Abmalen von Hausaufgaben, später begnügt man sich mit schlecht bezahlter, aber körperlich anstrengender Arbeit. Oft legen sich Betroffene komplexe Strategien zurecht, mit denen sie bedrohliche Situationen umgehen: Vom Postamt bis zum Brettspiel - überall muss man lesen und schreiben. Meist sind es nur ein, zwei Vertraute, die das Geheimnis teilen. Ein Leben, das in sicheren, aber immer gleichen Bahnen verläuft. Es gibt Kursteilnehmer, die nie ins Restaurant oder ins Kino gingen - aus Angst ertappt zu werden.

Das wenige, was Frau Rubin vom Lesen und Schreiben aus der Sonderschule mitgenommen hatte, verlernte sie über die Jahre wieder. Es nun doch zu versuchen, kostete sie Kraft und Überwindung. Ihre ältere Tochter kam diesen September in die Schule, "da will ich ihr doch bei den Hausübungen helfen können", sagt Frau Rubin. Über ihre eigenen Fortschritte ist sie selbst verblüfft. "Wenn ich den Kindern vorlese, dann brauch' ich's nicht mehr vorher leise lesen, sondern kann's gleich in einem durch zügig", erklärt sie mit schelmischem Lächeln. Brigitte Bauer von "abc Salzburg" kennt die Selbstzweifel ihrer Teilneher. Oft würden sie viele Monate nachdenken, bevor sie sich zur Anmeldung durchringen. "Die haben natürlich große Angst, denn der Gedanke 'Vielleicht kann ich wirklich nicht lernen‘, ist furchtbar belastend", sagt Bauer.

Platzmangel in Lesekursen

Wie viele andere Erwachsenenbildner kämpft sie deswegen nicht nur um eine tabulose Diskussion in der Öffentlichkeit, sondern auch darum, möglichst viele Plätze anbieten zu können. Die Warteliste von "abc - Salzburg" reicht bis ins Jahr 2010. Kurse gibt es mittlerweile in allen neun Landeshauptstädten, überall erleben sie einen Ansturm.

Die Basisbildungskurse, die das Unterrichtsministerium mit 12 Millionen Euro fördert und in denen in diesem Jahr rund 3000 Erwachsene das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen oder Computer-Kenntnisse nachholen, sind aber nur die Spitze einer österreichischen Bildungskatastrophe. Denn: Nach einer Schätzung des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2002 verstehen zehn bis 20 Prozent der Erwachsenen längere Texte nur unzureichend. Glaubt man diesen Zahlen, sind nicht 600.000, sondern bis zu anderthalb Millionen Österreicher betroffen.

Bis zu 1,5 Millionen betroffen

Die jüngste Pisa-Studie bestätigt: 21,5 Prozent der Jugendlichen in Österreich haben "Schwierigkeiten, in einfachen Texten Informationen zu lokalisieren, einfache Schlussfolgerungen zu ziehen oder die Hauptidee eines gut gekennzeichneten Textteils zu erkennen", wie es in einem Bericht des Unterrichtsministeriums heißt. Diese Schwierigkeiten nehmen im Laufe der Jahre - wie bei Frau Rubin - häufig noch weiter zu. Die Betroffenen vermeiden im Alltag das Lesen und Schreiben, haben Angst davor.

Die Ursache ist laut einschlägigen Studien fast immer im ersten und zweiten Volksschuljahr zu finden: Lernschwache oder sozial unangepasste Kinder werden links liegen gelassen, gerne auch in die Sonderschule abgeschoben. "Die Schulstruktur ist veraltet", sagt Erwachsenenbildnerin Bauer. Es brauche einen "Kurswechsel", fordert sie mehr individuelle Betreuung von Schülern, wie es etwa in Skandinavien schon lange der Fall sei. Bildungsforscher und Erwachsenenbildner kritisieren einhellig, dass Österreichs Schulsystem zu sehr selektiert und Schwächen betont.

"Vielleicht in der Dritten Welt"

"Wenn du vor zehn Jahren zu einem Politiker gegangen bist und gesagt hast 'Wir haben da ein Problem, das heißt Analphabetismus', hat er gemeint 'Ja, vielleicht in der Dritten Welt'", berichtet Bauer. Das Unterrichtsministerium ist mittlerweile sensibel für das Thema geworden, schießt Geld zu und ermöglicht damit auch Kurse in kleineren Gemeinden. Die bildungspolitische Scharte, die die Schulen hinterlassen, können die Erwachsenenkurse aber allenfalls notdürftig ausmerzen.

Dass es nicht an ihr selbst gelegen ist, dass sie so schlecht lesen und schreiben konnte, macht Frau Rubin heute sehr zufrieden. "Mit einer Freundin schreib' ich schon E-Mails, das hätt' ich mich früher nicht getraut." Jetzt würde sie auch hin und wieder "die Zeitung durchblatteln", und auch den Führerschein will sie mit 44 Jahren endlich machen. Kurz schaut sie von ihrem Übungsblatt auf und sagt: "In dem Kurs bleib' ich, solange es geht." (Lukas Kapeller, derStandard.at, 2.10.2009)