Obermeistersinger Hans Sachs (James Rutherford, rechts) pflegt mit Sixtus Beckmesser (Jochen Schmeckenbecher) freundschaftlichen Umgang, bevor er ihn mit gelben Schuhen zur Witzfigur macht.

Foto: Oper Graz

Mit der Verlegung der Handlung in die Nachkriegszeit bietet Alexander Schulin eine überzeugende Deutung

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Graz - "Muss man denn immer alles interpretieren?" - Ja, man muss, wäre auf diese wahrscheinlich sogar ernst gemeinte Frage eines Premierenbesuchers in der Grazer Oper zu entgegnen, der am Samstag während einer Pause seinem Ärger Luft machte. Und man muss dies bei keinem Werk so dringend wie bei den Meistersingern von Nürnberg, die von der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka an den Beginn ihrer Ära gestellt wurden.

Man müsste es schon allein wegen der beispiellos aggressiven Deutschtümelei, die Richard Wagner in dieser Oper betrieb. Und man muss es umso mehr, weil sich die Figur des Beckmesser, dem das Libretto den Galgen wünscht, aufgrund einer langen Indizienkette (und einer umstrittenen, aber auch nie widerlegten These) als jüdische Karikatur interpretieren lässt.

Im Programmheft stellte denn auch die Dramaturgin Francis Hüsers die Frage, wie es möglich war, "nach Auschwitz" die Meistersinger aufzuführen, wie dies heute möglich sei - oder ob das Thema gar verjährt sei. Die mit viel Jubel und einigen Buhs (wie es sie bei Wagner immer gibt) bedachte Grazer Produktion hatte sich jedenfalls eindeutig dafür entschieden, dass diese Themen nie verjähren.

So war die Ausstattung, an der sich manche schon stießen, beinahe so schäbig wie Wagners privater Antisemitismus oder die Charakterzüge mancher seiner Figuren. Regisseur Alexander Schulin lag es dementsprechend fern, putzig-idyllische Kleinstadtszenen mit ungebrochenen Jubelchören zu arrangieren, sondern er dachte an die Zeit rund um 1948, als sich Deutschland mit der jüngsten Geschichte im Rücken gerade dazu anschickte, zur Normalität zurückzufinden.
Irritierende Brüche

Bühnenbildner Alfred Peter suggerierte indessen, dass sich seit den 1930er-Jahren noch nicht viel geändert hat: Im Vereinslokal des 1933 von den Nationalsozialisten für ihre Gleichschaltungsmaßnahmen instrumentalisierten Deutschen Sängerbundes, dessen Schild über dem Podium prangt, blättert ein pompöses Wandbild mit einer Kriegsszene gerade vom Putz; Athleten vollführen daneben ihre Leibesübungen, als ob sie von Turnvater Jahn selbst angeleitet worden wären; und die Sänger pflegen ihre alten Rituale, als wäre nichts geschehen.

Mit der Selbstverständlichkeit des Patriarchen verfügt der sonore Pogner von Wilfried Zelinka über seine ein wenig blasse Tochter Eva (Gal James), dass sie zum Preis in jenem Wettsingen wird, zu dem man frohen Mutes aufbricht, das dann jedoch wegen eines Gewitters wiederum nach drinnen verlegt werden muss. Es sind solche kleinen Brüche, mit denen die Inszenierung deutlich ihre Irritation durch das Stück vermittelt. Das geschieht auch besonders an jenen Stellen, wo sie das Geschehen für Sekunden einfriert, die Darsteller ins Publikum blicken oder die Prügelfuge zu einem beklemmenden Standbild wird. Schade nur, dass der solide, aber gar outrierende Beckmesser von Jochen Schmeckenbecher, dem symbolträchtig gelbe (!) Schuhe verpasst werden, doch wieder zur ziemlich eindimensionalen Witzfigur gerät, obwohl zuvor seine Beziehung zu Sachs auch von freundschaftlichen Zügen gezeichnet war.
Orchestrale Höhenflüge

Wäre indessen die tatsächliche Sängerleistung bewertet worden, hätte der Walther von Burkhard Fritz in seinem beängstigenden Bürokratenanzug kaum den Sieg errungen: Zu wenig strahlend, zu mühselig gerieten die Wonnen, von denen er da sang. Neben Dirigent Johannes Fritzsch, der das bestens situierte Grazer Philharmonische Orchester zu nie übers Ziel schießenden Höhenflügen anstachelte, war es stattdessen James Rutherford, der für die stärksten Eindrücke sorgte: Über die ganze mehr als sechsstündige Aufführung war er ein unermüdlicher Sachs, der immer wieder glaubhaft ins Grübeln geriet und sich während seines fulminanten Schlussmonologs von dannen machte, als ob er gerade Thomas Manns Unbehagen darüber vernommen hätte, dass das Publikum derart zum Patriotismus angestachelt wird.

Dem, was dieser in seinen Tagebucheintragungen, just aus dem Jahr 1948, festhielt, ist auch aus heutiger Sicht nichts hinzuzufügen: "Abends III. Akt Meistersinger. Teilweise entsetzt über die Demagogie. Das Schelmische, das Biedere, das National-Pomphafte, vermischt mit Parodie und schönster Musik. Es ist immer wieder ein schwieriger, anziehender und abstoßender Fall." (Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe 28.9.2009)