Die letzten Wochen haben den Deckel von der Pandorabüchse genommen: Es ist in Vorarlberg wieder möglich, mit offenem Antisemitismus politische Energie zu entfesseln.

Aber die Parole vom Juden, der sich "einmischt" , wo er nichts zu suchen hat, der "immer" provoziert, der "uns" verfolgt und mit seiner Macht "wieder" kontrollieren will, sie ist nicht deswegen schlimm, weil sie einen Juden beleidigen und beschimpfen soll. Natürlich, auch das ist schlimm genug. Aber sie meint nicht den einen Juden, sie meint nicht einmal "den Juden" , wer auch immer das sei. Der Antisemit schlägt den "Juden" , weil er mit ihm viele auf einmal schlagen kann. Für den, den das zuerst trifft, ist das existenzbedrohend. Denn es nimmt ihn nur noch als Symbol, nicht einmal als Menschen her, der etwas tut oder auch nicht. Nur als Symbol, denn für den Antisemiten ist er nur eine Figur.

Aber der Antisemit meint nicht nur "den Anderen" im Menschen - der für ihn kein Mensch mehr ist, sondern nur ein Abziehbild seines Verfolgungswahns - er meint "die Anderen" , vor allem sie, für die er kein gemeinsames Wort hat, Muslime, Türken, Tschuschen, Araber, Ausländer, die Liste ist lang...

Mit dem Versuch, das Ganze als Kampf "wir" gegen "den Islam" zu einer Entscheidungsschlacht im Rheintal zu führen (statt wie sonst in den Weinbergen über Wien), mit diesem Versuch hat es so seine Tücken. Selbst der rechteste Populist im Land braucht türkische Einwanderer, damit die Wirtschaft nicht zusammenbricht, oder ukrainische Wanderdienstleisterinnen, damit im Altenheim nicht die Pflege zusammenbricht. Und erst recht weiß man eigentlich, dass es die Kreativität der "Neuen" , die Konkurrenz der "Dazukommenden" ist, die den "eigenen" Laden in Bewegung halten. Auf Dauer jedenfalls. Eigentlich weiß man das alles, weiß, dass man "ohne" Migranten gar nicht kann, ja wahrscheinlich weiß man sogar, dass auf Dauer auch ein menschenwürdiger Umgang mit denen, die kommen, die Voraussetzung ist, dass sie kommen - aber man zündelt hier und zündelt dort, um seine eigene Unsicherheit zu besiegen, das eigene Ungenügen, die eigene Ideenlosigkeit. Und man demütigt die "Anderen" , damit sie "Andere" bleiben, unten bleiben, ganz unten. Damit man selber nicht ganz unten ist. Man selbst sich stark fühlen kann, wo nichts mehr sonst zu holen ist.

Ein Grillfest in der Siedlung, wo "die Türken" wohnen, mitten im Ramadan, der Bürgermeister macht mit. Mal schauen, ob man seine Schweinswürstel "bei uns" noch ungestört essen darf, und zwar überall, jederzeit, und auch dann, wenn sie einem gar nicht schmecken, weil man nur an die Provokation denkt, die man damit begehen will, und immer darauf wartet, dass "die Anderen" sich endlich wehren, also die "Provokation" begehen, die man ja provozieren will. Ich kann mich noch gut an die "protestantischen" Demonstrationen durch katholische Stadtviertel in Nordirland erinnern. "Fuck the pope" wurde da skandiert, und wenn endlich der erste Stein geflogen kam, hatte man sie erreicht: "die Provokation" .

Der Antisemitismus ist das letzte Mittel, wenn all diese Provokation nicht reicht, um wirklich auf sich aufmerksam zu machen, um wirklich das Land zu spalten.

Und wie es sich herausstellt (wir hatten es schon fast vergessen, verdrängt, in Wohlgefallen aufgelöst), das Mittel taugt noch, jedenfalls für den Moment.

Das ist das eine. Doch es gibt auch das andere.

Ich habe in den letzten Wochen nicht nur das Gefühl, dass es hoffnungslos sein könnte, gegen diese Hydra zu kämpfen. Ich habe auch gespürt, dass manche beginnen, zu realisieren, um welchen Ernst es im Moment geht.

Menschen an der Spitze dieses Landes realisieren das, wie in den gesellschaftlichen Bewegungen, in den meisten Parteien, in der Wirtschaft und in den Schulen. Wie viele, weiß ich nicht, über jeden freue ich mich. Die Frage ist, wie schnell wird man wieder zur Tagesordnung übergehen?

Der antisemitische Ausbruch eines Kandidaten und der Applaus, den er dafür erhält, sie sind auch eine Chance. Dann jedenfalls, wenn sie tatsächlich dazu führen, dass wir nicht wieder zur Tagesordnung zurückkehren, sondern eine neue aufstellen.

Die könnte daraus bestehen, Einwanderung, Integration und Globalisierung ernst zu nehmen. Und zwar weil sie notwendig sind und weil sie Probleme schaffen, Probleme und Ängste. Weil sie Achtung voreinander erfordern, die wieder hergestellt werden muss, in vielen Gesprächen und Handlungen, ohne Polemik, sondern auf Augenhöhe. Und das heißt auch, diese Fragen und das, was sie nach sich ziehen, zum Beispiel einen neuen Blick auf Bildung und Kultur (man könnte auch sagen "Aufklärung" ), auf Platz eins zu setzen.

"Warum tut er das nicht?"

Vielleicht wird mir sogar Dieter Egger irgendwann wieder auf Augenhöhe begegnen, wenn er einmal eine Auszeit von der Politik nimmt, nicht mehr als Führer der Massen, sondern als Hohenemser Bürger - und das sind wir beide - darüber nachdenken könnte, in welcher Welt er leben will, auf verbrannter Erde, oder in einer zivilisierten Gesellschaft? Er hätte es ziemlich einfach, er müsste bloß den Rat des Landeshauptmanns annehmen und sich entschuldigen, nun ja, und mit allen Konsequenzen erklären, wie gefährlich der Weg ist, den er betreten hat. Ich habe mich immer gefragt, und ich bin weiterhin so naiv und arglos und will es bleiben: Warum tut er das nicht?

Ich hoffe, dass es an diesem Wahltag und danach nicht nur Beschämendes zu melden gibt, sondern dass ein Neuanfang damit möglich wird. Für den braucht es guten Willen, gute Ideen und viel Energie in allen demokratischen Parteien im Land. Ich bin gespannt darauf. (DER STANDARD-Printausgabe, 19./20. Septemer 2009)