Liquide: Daniel Reichert und Jennifer Paetsch

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"Egal wen man wählt, man bekommt immer etwas dazu, das einem gar nicht passt." Energisch rührt Daniel Reichert mit einem langen Löffel Zucker in seinen Caffè latte. Im linken taz-Cafe an der Berliner Rudi-Dutschke-Straße ist er wohl nicht der einzige, der so denkt. Noch mehr Gründe fallen dem 30-Jährigen ein, warum es um die real existierende Demokratie schlecht bestellt sei: "Die meisten Bürger wissen gar nicht, was mit ihrer Stimme nach einer Wahl gemacht wird".

Für Reichert steht fest, so wie es derzeit läuft im Staat, so kann es nicht weitergehen. "Es geht um Partizipation. Die Demokratie muss direkter, der politische Diskurs für alle zugänglich werden. Das Internet bietet uns die Möglichkeit dazu", erklärt Jennifer Paetsch, 28. Eine neue, eine belebende Strömung Demokratie sei Gebot der Stunde. Und Reichert und Paetsch wollen den Masterplan dazu haben. Per Mausklick soll die Bevölkerung in Hinkunft über Gesetze und Initiativen entscheiden, die im Bundestag beschlossen werden. Drei Jahre lang hat ein 15-köpfiges Team aus Berliner Softwareexperten, Politikwissenschaftern und Studenten an der Entwicklung des Konzepts und der dazugehörigen Software gearbeitet. Anfang September wurde "Liquid Democracy" den Hackern vom Hamburger Chaos Computer Club (CCC) vorgestellt. Ein erster Praxistest für die Nebenberufs-Revolutionäre um Obmann Daniel Reichert. Die Expertise von CCC in Sachen Software- und Internetsicherheit genießt Weltruf.

"Jeder ist ein Experte"

Dabei ist die Idee, Demokratie durchlässiger, also liquider zu machen, weder besonders neu noch eine Berliner Erfindung. In Kanada und Australien denkt man schon länger nach über das Grundprinzip der Liquid Democracy: Delegated Voting. Wer sich bei Volksabstimmungen seiner Stimme enthalten will, kann sie einem von ihm gewählten Experten übertragen. Zum Beispiel, wenn es um Finanzpolitik geht, dem dafür zuständigen Abgeordneten im Bundestag. Oder eben dem befreundeten Volkswirt. Oder der Mitbewohnerin, die in Steuerfragen firm ist. "Jeder von uns ist in irgendeinem Feld Experte", glaubt Jennifer Paetsch, die eigentlich Psychologin ist und an der Freien Universität Berlin Bildungsforschung betreibt.

Piraten testen

Ganz ohne Rache kommt auch die Revolution, so wie Liquid Democracy sie meint, nicht aus. Stellt sich nach der Stimmabgabe im Internet nämlich heraus, dass die Wahl die falsche und der befreundete Volkswirt doch kein Finanzexperte ist, bietet Liquid Democracy in Form des Refresh-Buttons die Guillotine 2.0: Stimmentzug, Foren zum Lästern, rote Striche für den Bundestag. Wer öfter negativ auffällt, bekommt im Netz schlechte Bewertungen, ergo keine Stimmen mehr überantwortet. „Durch das Internet ist diese direkte Form des Parlamentarismus jetzt erstmals konkret machbar geworden", sagt Reichert.

Dieses Jahr noch soll die erste Version der Software in Berlin getestet werden. Und die Altvorderen in Politik und Vereinen mit der Basis der „Digital Natives" konfrontieren. Geht alles nach Plan, soll die Netz-Revolution bei der kleinen Piratenpartei ihren Anfang nehmen. Als erste Gruppe in Deutschland will sie die Prinzipien von Liquid Democracy verinnerlichen. Dass mit Florian Bischof deren Berliner Bundestags-Spitzenkandidat gleichzeitig Gründungsmitglied des Vereins ist, passt gut.

Nach oben hin sind der Einsatzfähigkeit der Eigenbau-Revolution nach Meinung der Macher keine Grenzen gesetzt. "Liquid Democracy ist auch als Staatsform denkbar", meint Jennifer Paetsch. Als Prinzip gilt: Was nicht passt, wird durch Open Source passend gemacht. Jede Organisation kann sich so ihre eigene Basisdemokratie zimmern. Und für jede Abstimmung würde in letzter Konsequenz ein eigenes Mini-Parlament gegründet. Der Wiener Politologe Peter Hajek hält Liquid Democracy für weit weniger spinnert, als es auf den ersten Blick scheint: "Es setzt voraus, dass sich die Bürger stark für die Themen, die zur Wahl stehen, interessieren. Unser bisheriges System ist sehr einfach strukturiert. Liquid Democracy ist schon deshalb ein interessanter Input, weil es auf die Komplexität vieler aktueller Themen Bezug nimmt."

Ein-Themen-Parteien

Dass sich die Idee der fließenden Wahl am Ende im Bundestag durchsetzt, ist freilich unwahrscheinlich. "Das ist schon noch ein sehr weiter Weg, schon allein deshalb, weil die Idee und auch die Themen, über die abgestimmt werden soll, für einen Großteil der Bevölkerung schwer zu durchschauen sind", meint Politologe Hajek. Liquid Democracy-Denker Daniel Reichert kennt noch einen Grund: "Wer von den derzeit Mächtigen würde schon gerne auf Einfluss verzichten. Jetzt reicht es ja, einmal alle vier Jahre vor der Wahl Populismus zu betreiben, um an die Macht zu gelangen." Deshalb glaubt der Revolutionär aus dem Schwabenland auch nicht, dass Liquid Democracy ernsthaft an den Grundfesten der Republik rütteln würde. "Es gäbe ja weiterhin ganz normale Wahlen. Nur würden die Abstimmungen im Parlament dann wieder den Willen der Menschen widerspiegeln."

Wenig überraschend, dass der 30-Jährige den Gedanken schon weitergesponnen hat. Irgendwann würden Ein-Themen-Parteien entstehen, die sich eigens für eine wichtige Abstimmung formieren. Flooh Perlot, Politikwissenschafter mit Schwerpunkt Internet am Wiener Institut für Strategieanalysen, betrachtet genau das eher skeptisch: "Die Grundfrage ist, ob man allein mit Technik die Demokratie verbessern kann. In der Praxis verschwinden die Interessen, die jetzt unsere Politik bestimmen, ja nicht einfach, wenn man die Menschen im Internet abstimmen lässt. Die Entscheidungen werden auch nicht immer rational getroffen. Es kann gut sein, dass beim Delegated Voting derjenige Experte die meisten Stimmen bekommt, der den emotionalsten Mini-Wahlkampf betreibt."

Dass ihre Idee erst recht die Macht einiger weniger, gut vernetzter und interneterfahrener Eliten stützt, glaubt Reichert nicht. "In ein paar Jahren wird wirklich jeder Deutsche Zugang zum Netz haben. Es gibt heute ja auch hunderttausende strukturelle Analphabeten in Deutschland, die sich trotzdem ihre Meinung bilden und wählen können." Und wer schon selbst nicht mitstimmen will, könne seine Stimme ja jemand anderem anvertrauen. Jemandem, der sich auskennt. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 5.10.2009)