Charlie Todd und sein Flashmob-Organisationsgerät.

Foto: Matthias Cremer

Grand Central Station, New York. Hektisch bewegt sich die halbe Stadt durch den Bahnhof, den Kaffeebecher in der einen Hand, die Tasche in der anderen, das Handy am Ohr. Lautsprecherdurchsagen, quietschende Räder, quatschender Lärm. Und plötzlich, als hätte jemand auf den Stand-by-Knopf gedrückt, erstarrt ein Teil des Publikums - und Stille.

Fünf Minuten lang stehen die Menschen reglos im Stechschritt, beim Telefonieren oder mit der frisch geschälten Banane im Mund. Etwas bang ob der entrischen Situation schleichen die Uneingeweihten zwischen den toten Menschenskulpturen umher, checken den Ernst der Lage, piksen den Pendlerkollegen zaghaft in die Schulter. Und dann, klick, wie von Zauberhand, nimmt das Treiben seinen Lauf, als wäre nie etwas gewesen. Applaus.

Die ersten Flashmobs gab es 2003. Sie sind der kurzlebige Versuch, den öffentlichen Raum, der allen und niemandem zugleich gehört, in Besitz zu nehmen und zum Wohnzimmer der Nation zu erklären. Wenn's sein muss, auch illegal.

Das derzeit in Wien stattfindende Festival paraflows 09 widmet sich ebendiesem Thema, dem sogenannten Urban Hacking. "Der Begriff Hacken hat seit den Hollywood-Filmen einen fahlen Beigeschmack" , sagt Festivalleiter Günther Friesinger, "ursprünglich war ein Hack nichts anderes als der Ausdruck für journalistisches Arbeiten mit ungewöhnlichen, unorthodoxen Mitteln. Genau darum geht es beim Urban Hacking. Um das Aufbrechen der Konventionen im städtischen Raum - und zwar ganz ohne bösen Hintergedanken."

Wem gehört das Blumenbeet?

Friesingers Lieblingsprojekt im Rahmen des Festivals trägt den unscheinbaren Titel Interception. Dabei knackt der gebürtige Pole Roch Forowicz in einer U-Bahn-Station den Code einer Überwachungskamera und projiziert die Bilder, statt sie in die Wachstube zu schicken, direkt auf die gegenüberliegende Wand.

Doch man muss nicht unbedingt MacGyver sein. Der Wiener Künstler Bernhard Hosa beispielsweise schnappt sich Kübel, Schwamm und Seifenlauge und begibt sich damit in den Park. Mit beispielloser Hingabe macht er sich an einen städtischen Mistkübel heran, entleert ihn bis zum letzten pickigen Kaugummi und poliert das blecherne Ungetüm leidenschaftlich auf Hochglanz. Danke im Namen der Stadt.

Nützlich sind auch die Aktionen im Rahmen des sogenannten Guerilla Gardenings. Dabei werden unter anderem unhübsche, von städtischen Behörden überaus fantasielos gestaltete Blumenbeete umgeharkt und neu bepflanzt. Manchmal kommt es vor, dass aus dem Briefkastenschlitz eine unschuldige Primel ihre Blütenblätter reckt.

Niemand, aber auch wirklich niemand eignet sich die Stadt jedoch so flott und so fesch an wie die Traceure. In der vom Franzosen David Belle begründeten Sportart Le Parkour geht es um die Zurücklegung einer Wegestrecke von A nach B - und zwar auf die kürzeste und schnellstmögliche Weise. Im Idealfall handelt es sich dabei um die Luftlinie. Unbeeindruckt ob der baulichen Hindernisse, die sich einem immer wieder in den Weg stellen, sprinten die Traceure drauflos, hüpfen von einem Mauervorsprung zum nächsten, schweben schwerelos geschmeidig durch den öffentlichen Raum.

Wer hätte gedacht, dass die größte Parkour-Community dieses Landes in St. Pölten zu Hause ist? Um den Traceuren der Austrian Freestyle Foundation (AFF) angemessene Übungsmöglichkeiten zu bieten, wurde zu Beginn dieses Jahres ein löbliches Projekt ins Leben gerufen. Direkt vor dem Festspielhaus, quasi inmitten der niederösterreichischen Regierungsviertelwüste, sollte eine rund sechs Meter hohe und vielfältig nutzbare Skulptur entstehen. Optik für die einen, Turngerät für die anderen.

Übernächste Woche sollte das schöne Stück der Öffentlichkeit übergeben werden. Doch weil Österreich nun mal Österreich ist, wurde im letzten Moment ein Rückzieher gemacht. "Es war ein tolles und in der Herangehensweise sehr ungewöhnliches Projekt", sagt Architektin Gabu Heindl, "als Erstes musste ich die unterschiedlichen Bewegungsabläufe einstudieren. Unglaublich, wozu ein menschlicher Körper imstande ist."

Woran ist das Projekt gescheitert? "An mangelnder Sicherheit" , erklärt Gerhard Tretzmüller, zuständiger Abteilungsleiter für Gebäudeverwaltung in Niederösterreich. "Das größte Problem ist, dass da keine Versicherung mitspielt."

Urbane Hackkunst, wie sie leibt und lebt: Den Traceuren macht das nichts aus. "Es liegt in der Eigenheit dieses Sports, dass er überall stattfinden kann", sagen sie, "auch wenn man ihn verbietet." (Wojciech Czaja, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 12./13.09.2009)

 

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Interview: Es flasht nur kurz und illegal

Charlie Todd hat schon etliche Flashmobs organisiert. Doch wie öffentlich ist die Öffentlichkeit wirklich?

Standard: Wem gehört der öffentliche Raum?

Charlie Todd: Uns allen! Der öffentliche Raum ist das Wohnzimmer der Gesellschaft. Hier treffen wir uns, hier lernen wir einander kennen, hier gibt's Komik und Klamauk. Verbotstafeln, die darauf hinweisen, dass Gehen, Stehen, Liegen, Trinken, Essen oder Musizieren verboten sind, erscheinen mir suspekt. Menschen, die sich daran halten, ebenso.

Standard: Juristisch betrachtet, hat jede Straße, jeder Platz einen Grundstückseigentümer. Gibt es so etwas wie öffentlichen Raum denn überhaupt?

Todd: In New York gibt es eine Vorschrift, dass mit jedem neu zu errichtenden Hochhaus ein Teil des Grundstücks als öffentliche Fläche angelegt werden muss. Das ist eine sehr sinnvolle Maßnahme. Doch Hand aufs Herz: Die wirklichen Fädenzieher im öffentlichen Raum sind die Konzerne. New York ist mit Werbung und Filmankündigungen regelrecht zugepflastert. Wenn die Stadtregierung Werbung duldet, dann muss sie meines Erachtens auch die Inbesitznahme durch Privatpersonen akzeptieren.

Standard: Sie haben schon etliche Flashmobs organisiert. Erreicht werden damit nur die Jungen und Vernetzten. Was ist mit all den anderen?

Todd: Flashmobs gibt es heute schon auf der ganzen Welt. Die Leute organisieren sich über Facebook und Twitter. Ich halte es allerdings für ein Vorurteil, dass diese Medien nur die Jugend erreichen. Zu den ersten Flashmobs 2003, da kamen nur Leute wie du und ich. Männlich, weiß und keine 30 Jahre alt. Doch die Situation hat sich geändert. Zu den Mobs, die wir heute organisieren, kommen Rechtsanwälte, Künstler und Studenten, aber auch Großmütter mit ihren Enkelkindern.

Standard: Urban Hacking ist niemals von Dauer. Flashmobs dauern in der Regel nur ein paar Minuten. Heißt das, dass die langfristige Aneignung des öffentlichen Raumes zum Scheitern verurteilt ist?

Todd: In den meisten Fällen handelt es sich um unbewilligte, ja sogar um illegale Projekte. Sie müssen temporär sein, sie können gar nicht ewig dauern. Ich denke, dass genau in diesem Umstand der Reiz des Hackens liegt. Nichts ist für die Ewigkeit bestimmt, schon wenige Stunden später kann jemand anderer auf seine eigene, ganz persönliche Weise den Raum in Anspruch nehmen.

Standard: Wenn Sie die Gesellschaft im Wandel der Zeit betrachten: Leben wir heutzutage eher offen oder eher zurückgezogen?

Todd: Dank Facebook und Twitter leben wir öffentlicher als je zuvor - zumindest in sozialer Hinsicht. Jeder weiß, ob wir in der Nase bohren oder nicht.

Standard: Und räumlich?

Todd: Oft das absolute Gegenteil! Die neuen Technologien haben die Face-to-Face-Interactions auf ein Minimum reduziert. Oft leben wir die soziale Komponente nur noch digital aus. Umso wichtiger ist das Handeln in der Realität.

Standard: Ein persönlicher Abschluss: Wo verbringen Sie Ihre Freizeit lieber? Zu Hause oder im Park?

Todd: Ich bin süchtig nach Interaktion. In meiner Freizeit sitze ich am liebsten irgendwo in einer Bar. Oder ich fahre U-Bahn und höre den Leuten zu, wie sie mit ihren Liebsten telefonieren. Willst du Steak oder Sushi? Du, ich komme später. Ja, ich dich auch. Aber was soll ich sagen? Ich habe wenig Freizeit. Ich arbeite so viel am Computer, dass ich in nichtdigitaler Hinsicht längst schon zum Nesthocker mutiert bin.

(Wojciech Czaja, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 12./13.09.2009)