Von Wolf Scheller.
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STANDARD: Herr Nádas, Ungarn scheint gerade dem Staatsbankrott entronnen zu sein. Immer häufiger liest man von Übergriffen Rechtsradikaler gegen Juden, Roma und Homosexuelle. Erkennen Sie Ihr Land eigentlich noch wieder?
Nádas: Ja, doch. Ich wusste schon immer, dass es in der Tiefe brodelt, dass es da Probleme gab, über die man nicht sprach, die nicht kommuniziert wurden. Die sind alle jetzt zum Vorschein gekommen, und zwar aus einem ganz unglücklichen Anlass. Der ungarische Staat hat nicht nur mit großer Mühe knapp den Bankrott vermieden, er existiert auch nicht mehr. Ich habe gerade gelesen, dass eine unserer Polizeigewerkschaften eine Vereinbarung mit den Rechtsextremisten getroffen hat. Da braucht man sich dann nicht zu wundern, wenn die Polizei nach Attentaten gegen Zigeuner oder andere Minderheiten keine Täter findet.
STANDARD: Wie ernst ist die Situation? Was funktioniert da nicht in Ungarn?
Nádas: Der Staat funktioniert nicht. Der Staat ist zerfressen von Korruption. Diese Korruption ist in den vergangenen zwanzig Jahren nicht schwächer, sondern noch stärker geworden. Das ist zu einem zweiten Wirtschaftssystem geworden. In diesem Zeitraum hat das Land auch einen enormen technischen Fortschritt erlebt, die ganze Infrastruktur hat sich verändert. Es gibt inzwischen auch viele wohlhabende Menschen, wohlhabende Familien, eine kleine Schicht von Reichen, sogar Superreichen. Sie haben ihre Unternehmungen, ihre Häuser und Schlösser gebaut. Aber dazwischen gibt es keine Straßen, keinerlei Verbindungen mehr. Alles, was früher zum Gemeinwesen gehörte, zerbröckelt, und deswegen ist die allgemeine Unzufriedenheit sehr groß geworden. Alle bisherigen Regierungen tragen dafür die Verantwortung, aber davon wollen sie natürlich nichts wissen. Der Staat ist sozusagen zusammengebrochen.
STANDARD: Das heißt: Die demokratischen Strukturen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Ungarn geschaffen wurden, haben sich letztendlich nicht durchgesetzt?
Nádas: Sie sind gescheitert, mit mir zusammen. Ich scheitere fast jeden Tag, aber ich kämpfe auch nicht mehr, weil sich das einfach nicht mehr lohnt. Ganz einfach, weil diese demokratischen Strukturen bei uns in Ungarn von einem Netzwerk korrupter Leute ausgenutzt worden sind.
STANDARD: Viele haben sich doch gewundert, dass ausgerechnet Ungarn offenbar ganz unvorbereitet von dieser Wirtschafts- und Finanzkrise erwischt worden ist. Haben die Parteien in Ungarn in der Vergangenheit zu viel versprochen?
Nádas: Die Parteien überall versprechen immer zu viel. Das ist eine ganz große Schwäche der Demokratie. Die Politiker haben in dieser Phase vergessen, aufrichtig über die Lage der Nation zu sprechen. Das ist aber eine allgemeine Erscheinung. Die ungarische Besonderheit aber ist, dass hier eine Gesellschaft in Gang gehalten werden muss, die über keine funktionsfähige Mittelschicht mit Besitz verfügt. Dieses Kunststück hat die ungarische Gesellschaft nicht vollbracht. Allem Anschein nach gelingt es hier nicht, eine bürgerliche Mittelschicht aufzubauen. Verantwortlich hierfür sind mitunter auch unsere westlichen Nachbarn, die mit ihren großen internationalen Konzernen diese Lage auch ausgenutzt haben. Jetzt verlassen diese großen Unternehmen das Land.
STANDARD: Ist der nach 1989 in Ungarn eingeleitete Reformprozess steckengeblieben?
Nádas: Ja, er ist steckengeblieben, beziehungsweise er hat überhaupt nicht stattgefunden. Zum Beispiel ist das Renten- und Gesundheitssystem nicht reformiert worden. Das verschlingt jetzt eine Menge Geld. Man muss sagen: Diese Wende zu einer bürgerlichen Gesellschaft ist schon im ersten Anlauf nicht gelungen. Ich bin aber nicht gänzlich hoffnungslos, weil ich sehe, dass ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ganz ernsthaft arbeitet und nicht diese verschwenderischen, korrupten Ideen teilt. Also ich habe Hoffnung, dass man noch eine Möglichkeit hat, in eine andere Richtung zu gehen und nicht in den Selbstmord.
STANDARD: Hat also auch die Linke, die lange in Ungarn regiert hat, versagt?
Nádas: Ja, total versagt. Auch die Liberalen haben versagt. Sie sind alle korrupt. Wir stehen auch vor Parlamentswahlen, und man weiß wirklich nicht, wen man wählen soll. Wenn ich aber nicht zur Wahl gehe, unterstützte ich damit die Ultras, die Extremisten.
STANDARD: Ist es den Rechtsextremisten gelungen, jetzt in Ungarn so etwas wie eine revolutionäre Situation zu schaffen?
Nádas: Wir befinden uns am Rande dieser Situation. Die Rechtsextremisten beherrschen die Medien und die Sprechweise in der Öffentlichkeit. Ich kann nicht aus der Wohnung gehen, ohne ihre schrecklichen Parolen zu hören oder zu sehen.
STANDARD: Ist das nun geballter Hass, der sich da breitmacht, Hass als ein selbstständiger atmosphärischer Faktor im Alltag?
Nádas: Ja, das ist einfach Dummheit, eine Dummheit, die man nicht ansprechen kann. Hass allein erzeugt noch nicht zwangsläufig so viel Schlechtes. Aber Hass mit Dummheit gepaart - das ist schon gefährlich.
STANDARD: Sehen Sie da historische Kontinuitäten zu dem Faschismus der 1930er-Jahre in Ungarn?
Nádas: Das ist eindeutig, überall eindeutig. Das kann man auch in Deutschland beobachten.
STANDARD: Kann man sich vorstellen, dass sich auch in Ungarn so etwas wie ein demokratischer Konsens gegen diese Rechtsradikalen entwickelt?
Nádas: Zurzeit nicht. Auch deswegen nicht, weil die rechte Opposition auf Stimmenfang aus ist.
STANDARD: Die Roma bei Ihnen im Land sind bevorzugtes Angriffsziel der Rechtsextremisten. Ist die Demokratie in der Lage, das Roma-Problem besser zu handhaben als früher die Sozialisten?
Nádas: Nein, es gibt keine Konzeption. Die Zigeuner sind die ersten, die ihre Stellen verlieren. Sie haben keine Möglichkeit zu arbeiten. Sie leben abgeschieden auf dem Land an den Rändern der Dörfer in Ghettos. Um das Problem zu lösen, braucht man eine blühende Wirtschaft, deren Reste dann auch den Zigeunern zugute kämen. Aber eine nicht existierende Wirtschaft schafft das nicht.
STANDARD: Was ist in Ungarn von der Europa-Euphorie geblieben?
Nádas: Es gab nie eine Europa-Euphorie. Es war eine Vernunftehe, und man wusste, welche negativen Seiten das hat. Aber man wusste auch, dass es der einzig gangbare Weg war. Ein Teil der Bevölkerung - etwa 60 Prozent - hat sich gefreut, als wir Mitglied der Europäischen Union wurden. Aber das ist inzwischen zum Teil vorbei und hat einer eher feindseligen Haltung Platz gemacht.
STANDARD: Herr Nádas, hört man auf Sie oder andere ungarische Autoren wie Péter Esterházy oder György Dalos?
Nádas: Nein, wir sind Verräter. Man schreibt darüber, dass Esterházy und ich das Land verraten. Das lese ich jede Woche ein- oder zweimal. Im Fernsehen und im Rundfunk wird das auch gesagt.
STANDARD: Welche Konsequenzen hat das für Sie?
Nádas: Das hat mein Leben hier natürlich nicht leichter gemacht. Aber ich nehme es hin. Ich habe meine Meinung geäußert. Ich bin Demokrat und war es auch schon vor dem Mauerfall. Ich habe meine Meinung auch damals geäußert, und ich habe eine Diktatur durchgemacht, gemeistert, und ich werde auch diese Situation jetzt meistern. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.9.2009)
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Zur Person
Péter Nádas wurde 1942 in Budapest geboren und mit 16 Jahren Vollwaise. Nach einem Chemiestudium arbeitete er als Fotoreporter und Journalist. Sein erster Roman, Ende eines Familienromans (1979), wurde in Ungarn erst Jahre nach seiner Vollendung publiziert, da Nádas der Zensur als unerwünschter Autor galt. 1986 erschienen sein Opus magnum Buch der Erinnerung. Nádas wurde u.a. mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991), dem Kossuth-Preis (1992) und dem Leipziger Buchpreis (1995) ausgezeichnet. Er lebt in Budapest und Gombosszeg.