In jeder Krise steckt auch eine Chance. Dem optimistischen Glaubenssatz folgend, haben die Japaner noch inmitten ihrer Wirtschaftskrise die Chance für einen politischen Neubeginn ergriffen und die Dauerregierungspartei LDP vom Thron gestoßen. Es ist ein großer Schnitt, den die Wähler gesetzt haben: Erstmals in der Nachkriegsgeschichte Japans erlebt das Land einen fundamentalen, langfristig angelegten Machtwechsel.

Vor mehr als 15 Jahren unternahmen die LDP-Gegner schon einmal einen Versuch, die Liberaldemokraten von der Macht zu verdrängen. Elf Monate hielt damals das Experiment, dann war die Sieben-Parteien-Koalition am Ende. Heute ist die Lage ganz anders. Die künftig regierende Demokratische Partei Japans (DPJ) ist ungleich größer und gefestigter als frühere Oppositionsbündnisse. Sie hat einen Mechanismus entwickelt, mit dem sie ihren bunten Haufen von Ex-Sozialisten, Gewerkschaftern und LDP-Überläufern bisher zusammenhalten konnte. Und die DPJ ist so stark aus diesen Wahlen hervorgegangen, dass sie sogar alleine im Unterhaus regieren könnte; im Oberhaus hat sie zusammen mit ihren Partnern schon seit 2007 eine Mehrheit.

Aber damit endet bereits das große Versprechen auf einen Wandel im zweitgrößten Industriestaat der Welt. Wie der Mitte-links-Kurs des designierten Premierministers Yukio Hatoyama tatsächlich aussieht, ist weitgehend offen. „Erst einmal den Machtwechsel!" hieß die Losung der DPJ im Wahlkampf. Dass der Übergang im Tokioter Machtapparat in den nächsten Wochen und Monaten ohne Pannen und Stolpern abläuft, glaubt niemand.

Die DPJ, so mächtig und solide sie nun auch sein mag, ist immer noch eine unbekannte Größe. Hatoyama - selbst Spross einer Dynastie konservativer japanischer Politiker, inklusive eines Premierministers als Großvater - fasste sein Wahlprogramm in wunderliche Formeln: Eine „Politik der Liebe" kündigte er an, das Prinzip der „Brüderlichkeit", das Ende des „ungezügelten Fundamentalismus des Marktes". Auf eine Nation, die mehr als jede andere auf der Welt HiTech verehrt, und die ihre Unternehmen zu riesigen Exportmaschinen machte, muss das sonderbar wirken. Die Japaner haben weit mehr die LDP abgewählt als aus tiefer Ergriffenheit die DPJ an die Macht katapultiert. Einerseits.

Andererseits sind die Symptome der Wirtschafts- und Gesellschaftskrise in Japan in den letzten zehn Jahren so akut geworden, dass die Wähler offen für das Versprechen eines neuen Weges sind, einer grundsätzlich anderen Politik.

Denn längst ist Japans Modell von lebenslanger Anstellung und unerschütterlicher Loyalität zum Unternehmen zusammengebrochen; ein Drittel der Arbeitsverträge ist heute zeitlich befristet, die Lebensplanung also unsicher. Japans Bevölkerung schrumpft seit 2005, in zehn Jahren werden knapp 30 Prozent der Japaner über 65 sein, die Folgen sind bekannt: Der Konsum wird zurückgehen, die Zahl der Arbeitskräfte kleiner werden, die Pensionen lassen sich schwerer finanzieren. Japans Staatsverschuldung beläuft sich zudem auf gigantische 180 Prozent des BIP. Auch außenpolitisch lässt sich die Marginalisierung des Landes absehen. China wird Japan bald als führende Wirtschaftsmacht ablösen.

Die Versuchung für die Wahlsieger wird groß sein, auf dem Gebiet der Außenpolitik rasch wettzumachen, was innenpolitisch an nicht haltbaren Wahlversprechen übrig bleibt: selbstbewusste Töne gegenüber den USA, Drängeln auf Auflösung der US-Basis auf Okinawa. Am Ende aber wird der Pragmatismus siegen. Die Japaner haben jedenfalls die alten Vorwürfe über Reformmüdigkeit und endloses Beharrungsvermögen widerlegt. Die Abwahl der LDP war ein erster großer Schritt. (DER STANDARD, Printausgabe, 31.8.2009)