Salzburg - War das wirklich der vielbeschworene Wiener Klang? Wer, ohne zu wissen, welches Orchester da spielte, an manchen Stellen in diese Interpretation von Strawinskys Sacre de printemps hineingeraten wäre, hätte wohl nicht unbedingt auf die Wiener Philharmoniker getippt.

So erdig, wie schon das Fagottsolo des Beginns anhob, so fahl und grau, wie manche düsteren Akkorde erstanden, so wüst und bohrend wie manche stampfenden Rhythmen hätte man sich die "Wiener" noch vor wenigen Jahren überhaupt nicht vorstellen können. Erst ein genaueres Hinhören zeigte bei ihrem letzten heurigen Festspiel-Programm, wie genau austariert diese Klänge dem gängigen Ideal des Kulinarischen trotzten.

Es ließ sich all dies also dennoch unter die vielgepriesene Klangkultur des Orchesters subsumieren, dessen Klangfülle freilich eine immense Bereicherung erfahren hatte. In solchen Zonen wurde schlagartig klar, dass das Vorurteil des geschönten, zum Wohlig-Warmen zurechtgebogenen Klanges so nicht mehr stimmt, zumal wenn ein Dirigent vom Format eines Gustavo Dudamel am Pult steht.

Der Tanz, den der venezolanische Shooting-Star unter den Dirigenten dabei selbst vollführte, konnte aber nur einen Teil jener elektrisierenden Wirkung erklären, die er auf die Musiker ausübte, welche er da mit straffer Vitalität durch das Sacre peitschte. Dass dabei manche Details innerhalb der Stimmenschichtungen ebenso geopfert wurden wie etliche Nuancen zugunsten dynamischer Extreme, tat dem effektvollen Zug des Ganzen keinen Abbruch.

Radikale Kontraste

Bereits in Tschaikowskis Violinkonzert hatte Dudamel auf den Zauber radikaler Kontraste gesetzt und bei den Philharmonikern schönste, aber auch ein wenig statische Klangwirkungen heraufbeschworen. Zusammen mit auffällig moderaten Tempi ließen diese dem Solisten Nikolaj Znaider genügend Raum, sich wie die Reinkarnation eines romantischen Teufelsgeigers durch die Stimmungsschwankungen zu zaubern, denen er mit brüskem Ton und bravouröser Rasanz alle Süßlichkeit austrieb.

Anderswo freilich war es gerade wieder Süße, die er sich sehr wohl auf die Fahnen heftete - nämlich bei der zugegebenen Chaconne aus Bachs d-Moll-Partita. Dass Gustavo Dudamel dabei mitten im Orchester Platz nahm, um der eindringlichen, aber sehr romantisierenden Bach-Sicht des Geigers zu lauschen, verlieh ihm eine sympathische, natürlich wirkende Seite.

Andere Pultstars wären mit einer ähnlichen Haltung kaum vorstellbar, etwa solche vom Schlage eines Mariss Jansons, der am Samstag mit seinem Concertgebouworkest Amsterdam in Salzburg gastierte. Auch wenn er sich dabei mit Verve ins Zeug warf, bekam dies Haydns G-Dur-Militärsymphonie (Hob. I:100) nur bedingt.

Im Gestus zu unverbindlich, im Ton zu weich und harmlos, wurden hier allzu viele Konturen durch Eleganz abgefedert. Unerklärlich auch das Missverhältnis zwischen schweren und leichten Taktzeiten im Menuett, die Jansons dann bei Sibelius' Valse Triste so selbstverständlich wie berückend realisierte. Unüberhörbar auch, dass dort, wo Haydn im zweiten Satz die Kriegsschrecken ungeschönt eindringen lässt, mehr Vehemenz angebracht gewesen wäre - Vehemenz, die der Dirigent bei Schostakowitschs 10. Symphonie sehr wohl herausstrich.

Die Korrespondenzen zwischen den beiden programmatisch klug nebeneinander gestellten Werken mussten so teils im Geiste ergänzt werden. Schostakowitschs als Abrechnung mit der Stalin-Ära lesbares Opus selbst geriet aber ebenso drängend, glühend und expressiv, wie Jansons dessen Tristesse mit dem über eine ungeheure Klangdichte verfügenden Orchester herauszuarbeiten wusste. Dank wunderbarer Solisten wurden etwa das verloren Rezitativische des vierten Satzes und das bitter-sarkastisch Tänzerische zu packenden Höhepunkten in dieser Auslotung psychologischer Untiefen. (Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe, 31.08.2009)