Drei Gastkritiker und die STANDARD-Filmredaktion über ihre persönlichen Erinnerungsstücke und Werksplitter.
***
The King of Comedy (1983)
The King of Comedy überzeugt immer noch als maßgebliche Satire auf die moderne "celebrity culture" und die Dysfunktionen, die sie hervorbringt: den Hunger nach Aufmerksamkeit, die falsche Intimität, das endlose Potenzial für Aufmerksamkeit und Ablehnung. Der Anti-Held des Films, Rupert Pipkin (Robert De Niro), ist ein aufstrebender Komiker und der größte Fan des Talkshow-Hosts Jerry Langford (Jerry Lewis). Für Rupert gibt es keinen Unterschied zwischen der Anhimmelung einer Person und dem Wunsch, ihr Freund zu sein - und dem, sie selbst zu sein. Als Jerry seinen Stalker auffordert, sich zu verziehen, nimmt der verschmähte Fan sein Idol als Geisel, in Austausch für fünf Minuten Prime-Time-Ruhm.
Wie Taxi Driver bewegt sich The King of Comedy entlang einer Bruchlinie zwischen realer Welt und jener der Einbildung seines Protagonisten. Einmal bittet der ausgebrannte Star seinen Vertrauten, seinen Platz für ein paar Wochen zu übernehmen. Ein verstörender Schnitt offenbart, dass sich die Unterhaltung in Ruperts Kopf abspielt. Das Verhältnis von Fantasie und Realität wird immer verschwommener und kulminiert schließlich in der Erfüllung von Ruperts Lebenstraum: seinem Monolog im Fernsehen. Früher im Film hatte er seine Sätze vor einem Riesenfoto ihn bewundernder Fans geprobt. Diesmal steht er einem Live-Publikum gegenüber - und uns -, und wir hören eine Litanei familiärer Erniedrigungen voller Selbsthass. Aber die Menge hört nicht auf zu lachen, ganz so, als hätte es Rupert immer schon gewusst. (Dennis Lim schreibt u.a. für die "New York Times" ; Redakteur von www.movingimagesource.com)
Casino (1995)
Ein Mann tritt aus dem Haus, geht zu seinem Auto, setzt sich hinein, er dreht den Zündschlüssel, aber das sehen wir schon nicht mehr, denn in diesem Moment wird er von einer Explosion aus dem Auto in das Flammenmeer geschleudert, auf dem 1995 Casino errichtet wurde. Das künstliche Paradies von Las Vegas ruht auf einem verbrecherischen Fundament, in dessen Untergrund die Hölle liegt. Wer ganz unten ankommt, steht im gleißenden Licht einer riesigen Automatenhalle. Martin Scorsese ließ sich von dem Experten Saul Bass für Casino eine Vorspannsequenz gestalten, die mit der Musik von Bach und den allmählich aus dem Feuer hervortretenden Leuchtspuren von Las Vegas eine Fallgeschichte andeutet, wie sie nur ein obsessiver Kulturkatholik erzählen kann: Die Mafia ist ein großes mephistophelisches Unternehmen, dem man sich nur nach innen entziehen kann, in den Wahnsinn von Nicky Santoro (Joe Pesci), in die staunende Kälte von Ace Goldstein (Robert De Niro), in die Drogenhysterie von Ginger (Sharon Stone). Als Casino herauskam, sahen ihn viele als Variante von Goodfellas. Heute erscheint er als Summe von Scorseses Themen: Es gibt keine Sünde, nur einen nie aufhörenden Sündenfall. (reb)
Wie ein wilder Stier/Raging Bull ('80)
Als ich Raging Bull zum ersten Mal im Kino sah - ich glaube, es war bei einer Retrospektive der Berlinale -, kam ich ein bisschen zu spät und fand nur noch in der ersten Reihe Platz. Robert De Niro ragte also nicht nur überlebensgroß, sondern auch ziemlich dicht vor mir auf. Raging Bull ist ja in den Kampfszenen so inszeniert, dass der Zuschauer meint, er stehe selbst im Ring - ein Effekt, der sich potenziert, wenn man in der ersten Reihe sitzt. Mit anderen Worten: Jake La Mottas Faustschläge trafen direkt und wuchtig, und all das, was während der Kämpfe die Orientierung im Bild erschwert, zum Beispiel das Kippen der Kamera, die unvermuteten Close-ups oder die Slow-Motion-Einlagen, in denen das Blut als Fontäne aus der Nase des Gegners aufsteigt, all das hatte eine so heftige Wirkung, dass ich nur noch staunen konnte: Was für ein Drama übersteigerter, in sich selbst gefangener, zerstörerischer Männlichkeit. Viel später las ich bei Amy Taubin, dass das Kreuz, das im Film über dem Ehebett hängt, aus dem Schlafzimmer von Scorseses Eltern stammt. (Cristina Nord, Filmredakteurin der Berliner "Tageszeitung")
Who's That Knocking At My Door ('68)
Wiederentdeckt auf einer alten VHS-NTSC: Zwei Personen sitzen auf einer Holzbank und warten auf die Staten Island Ferry. Der Herumtreiber J. R. (Harvey Keitel) schielt immer wieder in die Zeitschrift - Paris Match! - der jungen Frau (Zina Bethune), die namenlos bleiben wird. Ein Foto von John Wayne ist darin abgebildet, es wird den Anlass für ein erstes Gespräch des späteren Liebespaares geben, in dem es darum geht, sich an John Fords Western The Searchers zu erinnern: "You know, with John Wayne. It was in colour! Natalie Wood was in it!" Die Szene aus Scorseses Debüt, weitgehend eine Plansequenz, liefert bereits Aufschluss über die legendäre Cinephilie des damals 24-Jährigen, die bis ins Innerste seiner Bilder und Figuren vordringt, deren Verhalten und Begierden mitbestimmt. Wenn J. R. später die Ambiguität dieses Ford-Helden zu erfassen versucht - "Well then again, John Wayne could get pretty nasty when he wanted to be." -, dann beschreibt er damit auch seine Widersprüche gut - und ein wesentliches Merkmal vieler Scorsese-Figuren. (kam)
Mean Streets (1973)
Als Siebzehnjähriger habe ich in Newcastle die Schule geschwänzt, um mir Mean Streets und Taxi Driver im Doppel anzusehen. Meine Annahme war, davon würde ich mehr profitieren als von zwei Stunden Basketball. Dabei war es nicht so, dass mich Scorseses bahnbrechender dritter Spielfilm völlig umgehauen hätte: Mein inzwischen vergilbtes Tagebuch verzeichnet ein bescheidenes "C" - ach, jugendlicher Übermut! Erst nach vielen weiteren VHS-Sichtungen, beim Aufsaugen der Dialoge ("A mook? I'm a mook?! ... What's a mook?") oder der Figuren (cool angezogene junge Männer am Rande der Kriminalität), hat mich Mean Streets richtig gekriegt.
Impulsiv und vibrierend ist Mean Streets ganz das Werk eines jungen Filmemachers, der besessen ist von seinem Medium und darauf brennt, dieses und sich selbst an Grenzen zu treiben. Natürlich hat er auch etwas von der Wunscherfüllungsfantasie eines Kindes, das, wie viele von uns, in der Einsamkeit eines Kinos groß geworden ist: Dessen Alter Ego ist generös, gesellig, er kommt bei Frauen gut an, es fehlt ihm nicht an schillernden Freunden. Und es verrät einiges, dass Scorsese sich ein Cameo als bewaffneter Gangster gibt. Er verdient ein "A-". Mindestens. (Neil Young bloggt auf www.jigsawlounge.co.uk/film)
Gangs of New York (2002)
Zuerst hört man nur ein leises Schaben. Dann erscheint das Gesicht eines Mannes, der sich rasiert (ein big shave). So beginnt eine Eröffnungssequenz, die bald aus lehmigen Katakomben nach draußen auf einen verschneiten Platz führt, und schließlich, wenn der Boden blutig und von Toten bedeckt ist, da endet, wo andere Filme anfangen: "New York City 1846". Mit Gangs of New York setzte Scorsese ein über Jahrzehnte gehegtes Vorhaben um (und fand in Leonardo DiCaprio seinen neuen leading man). Es ist ein Monumentalfilm geworden. Das ist sein Problem: Er kann sich nicht zwischen dem Erzählgestus des Mythos und jenem eines Chronisten entscheiden. Darin liegt aber auch sein Reiz - in einem Kinosaal, auf Leinwand und mit guter Tonanalage. (irr)
(DER STANDARD/Printausgabe, 28./29.08.2009)