Wer sich in den neunten Stock des Gebäudes der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) am Wiener Handelskai aufmacht, wo PVA-Generalsdirektor Winfried Pinggera sein Büro hat, der begegnet auf dem Weg dorthin genügend potenziellen Interviewpartnern. Vom Taxifahrer bis zum Portier - die Pension, sei sie nahe oder noch fern, ist bei allen ein Thema. "Und, wann dürfen Sie denn gehen?", unterhalten sich zwei ältere Damen im Aufzug.  Pinggera selbst betont, er (und die PVA) seien nicht für politische Entscheidungen, sondern "nur" für die Vollziehung zuständig. "Und das ist kompliziert genug", meint der Jurist im derStandard.at-Interview. Mit Anita Zielina sprach er über Alkoholismus und Übergewicht, Arbeitswille und Invalidität und über Pensionisten, die jetzt Solidarität mit der jungen Generation zeigen können.

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derStandard.at: Herr Pinggera, ich bin knapp 30 Jahre alt. Wie groß ist die Chance, dass ich, wenn ich im Pensionsalter bin, noch tatsächlich eine staatliche Pension aus unserem jetzigen Pensionssystem herausbekomme?

Pinggera: Wenn Sie die nächsten 30 Jahre arbeiten und versicherungspflichtige Dienstverhältnisse eingehen, gehe ich davon aus, dass Sie ganz normal eine Pension beziehen werden. Wir haben ein Pensionssystem, das stabil ist. So ein Riesensystem hat eine wahnsinnige Stabilität. Es werden momentan zwei Dinge vermischt - das eine ist die Wirtschaftskrise, also die sinkenden Beitragsgrundlagen. Aber das ist eine kurzfristige Thematik. Das andere sind langfristige Baustellen, etwa die Alterung der Gesellschaft und die niedrige Geburtenrate.

Wenn jetzt gefragt wird: Wie sicher ist unser Pensionssystem, dann wird meistens auf die Krise angespielt. Natürlich ist es eine Herausforderung, weil sich die sinkenden Beiträge und die gestiegene Arbeitslosigkeit auswirken, aber der Bedarf ist meiner Meinung nach administrierbar.

derStandard.at: Sie haben vor einiger Zeit vorgerechnet, dass ein Prozent Beitragsrückgang etwa 220 Millionen Euro kosten würde. Jetzt haben die "Salzburger Nachrichten" aufgezeigt, dass das Beitragsgrundlagenwachstum dieses Jahr nur 0,8 Prozent betragen dürfte, ein noch viel stärkerer Einbruch als erwartet. Wieviel zusätzliche Budgetmittel werden für 2009 nötig sein, um das Loch zu stopfen?

Pinggera: Das wäre jetzt eine Milchmädchenrechnung, genau sehe ich das erst am Jahresende. Es ist erst ein halbes Jahr vorbei - natürlich mit einer klaren Tendenz, dass es weniger Beitragswachstum gibt als letztes Jahr. Das ist nicht wegzuleugnen. Aber ich warne davor, jetzt diese 0,8 Prozent zu apodiktisch zu nehmen - wir wissen nicht wie sich Weihnachten auswirken wird, wir wissen nicht wie der Tourismus im Herbst aussieht.  Aber man kann davon ausgehen, dass mehr Finanzbedarf aus dem Budget besteht. Die geplanten Investitionen werden nicht reichen.

derStandard.at: Wenn Sie vorhin meinten, die Auswirkungen der Krise sind nicht das Hauptproblem, was ist es dann?

Pinggera: Unser Pensionssystem hat alle Voraussetzungen, ein zukunftssicheres System auch für heute 30-Jährige zu sein. Wir müssen uns nur überlegen, was wir uns an Zusatzleistungen leisten wollen. Wir haben ein Gesetz, in dem 65 als Pensionsantrittsalter drinnen steht. Dann haben wir sehr viele Dinge links und rechts des Weges, die im Endeffekt zu einem tatsächlichen Pensionsantrittsalter sechs Jahre davor führen. Wir müssen uns fragen: Können wir uns das leisten? Wollen wir uns das leisten? Aus den Beiträgen wird sich das vermutlich langfristig in diesem Ausmaß nicht finanzieren lassen.

Wenn Sie heute in Pension gehen, haben Sie noch muntere 30 Jahre Lebenserwartung vor sich. Und da muss man fragen: Ist es notwendig, mit 59 in Pension zu gehen? Das wird die Frage sein, auf die Gesellschaft und Politik eine Antwort geben müssen. Wir vollziehen die Dinge hier nur, für die ideologischen Entscheidungen sind andere zuständig.

derStandard.at: Links und rechts des Weges heißt also, alles, was nicht die klassische Alterspension zum vorgesehenen Pensionsantrittsalter ist ...

Pinggera: ... kostet mehr Geld. Wenn ich etwa hohe Invaliditätsraten habe - und da sind wir in Europa leider ganz weit vorne - kostet das Geld. Und die Frage nach den Konsequenzen daraus muss die Politik an die verschiedenen Generationen stellen. Man muss also die Jungen fragen: Bist du bereit, 22,5 Prozent oder mehr für die Pensionen deiner Eltern zu zahlen?

derStandard.at: Ist die starke Inanspruchnahme der Invaliditätspension ein Zeichen, dass die Abschaffung der Frühpension ein Fehler war?

Pinggera: Das ist eine gesellschaftspolitische Frage. Sie haben heute einen Druck in der Arbeitswelt, der teilweise Krankheitssymptome auslöst. Dem muss man sich stellen. Es gibt Gesellschaften, wo etwa Teilpensionen sehr gut funktionieren. Dort ist die gesellschaftliche Stellung vom Beitrag abhängig, den man für die Gesellschaft leistet.

Der Japaner arbeitet auch noch mit 70, und sei es nur, dass er im Tempel irgendwelche Bäumchen schneidet. Er kriegt dafür fast nichts gezahlt, aber er bekommt noch aus vorherigen Jobs Teilpensionen. Alles zusammengenommen hat er dann ein zufriedenstellendes Einkommen, so wie unser Invaliditätspensionist. Der Unterschied: Er kann zwar einen bestimmten Job nicht mehr erledigen, würde aber nie auf die Idee kommen, sich völlig aus dem Arbeitsmarkt zurückzuziehen.

Bei uns geht der Trend dahin: Ich habe einen gewissen Grad der Erwerbsunfähigkeit erreicht, dann falle ich komplett raus aus dem Arbeitsmarkt. Wir wissen aber, dass der Wunsch nach einer gewissen Aktivität weiter da ist, etwa bei ehrenamtlicher Arbeit. So dränge ich Leute in sehr großer Zahl aus dem Erwerbsleben hinaus, und das kostet eine Volkswirtschaft viel Geld. Hier neue Wege zu beschreiten ist eine Herausforderung.

derStandard.at: Wie können diese Wege aussehen?

Pinggera: Es geht darum, den Leuten zu zeigen: Du hast eine Einschränkung am Arbeitsmarkt, aber das heißt nicht, dass du komplett herausfällst. Einer der häufigsten Gründe für eine Invaliditätspension ist etwa simples Übergewicht. Das Bild vom Invaliditätspensionisten, der bewegungsunfähig im Rollstuhl sitzt, stimmt also gar nicht so oft. Und etwa beim Thema Übergewicht versuchen wir ganz massiv, die Menschen zu einem Überdenken ihrer Lebensführung zu bringen - wir haben Beratungen, wir haben sogar Übungsküchen, in denen unter Anleitung gesund gekocht wird.

Ein weit verbreitetes, massiv unterschätztes Problem ist etwa auch Alkoholismus. Wir investieren hunderte Millionen Euro in Reha-Maßnahmen, wir versuchen, Menschen wieder umfassend zu rehabilitieren. Wir leben davon, dass möglichst viele Menschen im Erwerbsleben stehen. Der Installateur, der vielleicht nicht mehr in irgendein Rohr kriechen kann, weil er Bandscheibenprobleme hat, kann aber unter Umständen ein grandioser Berater im Baumarkt sein.

derStandard.at: Die Zahl derjenigen, die in "Hacklerpension" gehen wollen, ist stark angestiegen.

Pinggera: Wir konstatieren tatsächlich einen gewissen Drang in die Pension. Wir haben zum Beispiel einen extremen Anstieg an Pensionsvorberechnungen, Menschen wenden sich also an uns und wollen wissen wann sie unter welchen Bedingungen in Pension gehen können. Alleine im Juli gibt es ein Plus von 41 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.

derStandard.at: Jetzt könnte man natürlich sagen: Wunderbar, wir haben ohnehin gerade zu wenig Arbeitsplätze - freuen wir uns doch, dass die Menschen früher in Pension gehen wollen. Andererseits kostet das natürlich Geld. Wie geht man mit diesem Dilemma um?

Pinggera: Dieses Dilemma ist nicht neu. Österreich war immer Meister, Arbeitslosigkeit über Pension zu lösen. Das hat Tradition seit den Stahlkrisen. Ich denke man muss aufpassen: Wenn man davon ausgeht, dass die Krise eine temporäre Erscheinung sein wird, dann werden mir, wenn ich jetzt ganze Jahrgänge verfrüht in Pension schicke, diese Fachkräfte, dieses Knowhow, irgendwann fehlen. Die Strategie wäre also sehr kurzsichtig. Was wir uns überlegen müssen: Wie schaffen wir einen Arbeitsmarkt für alte Menschen? Wie schaffen wir Arbeitsplätze für Menschen mit besonderen Bedürfnissen?

derStandard.at: Im alten Regierungsprogramm war sie noch vorgesehen und sorgte für Aufregung in der Koalition: Die Pensionsautomatik. Wie unglücklich sind Sie, dass es nicht dazu gekommen ist?

Pinggera: Es gibt, so oder so, gewisse Automatiken im ASVG. Wenn sich die Lebenserwartung ändert, dann gibt es gewisse Schrauben, an denen man dreht. Die Frage ist nur: Was löst das Drehen an den Schrauben aus? Natürlich will keiner gern unpopuläre Maßnahmen setzen. Und wer die hoch-heiligen 65 Jahre als erster antastet, ist der Buh-Mann. Wenn es jetzt durch die Automatik keine politische Entscheidung mehr ist, wann und wie man an den Schrauben dreht, muss niemand diese Entscheidung treffen. Aber de facto ist es egal: Wir haben ja heute schon ein vorgesehenes Pensionsalter von 65 Jahren, und de facto gehen wir sechs Jahre früher. Die Frage wäre also, wie ernst man so einen Automatismus nimmt.

derStandard.at: Welche Baustelle im Pensionssystem wäre am dringlichsten zu beackern?

Pinggera: Wir tun uns schwer im Vollzug mit der Schwerarbeiterpension. Es ist ein Unterschied, ob ich Bauarbeiter bin und in der Grube täglich Steine schaufle, oder ob ich Bauarbeiter bin, in Wirklichkeit aber auf einem kleinen Bagger sitze und herumfahre.
Die Grundfrage ist: Ist das Pensionsrecht dazu geeignet, berufliche Risiken abzudecken? Mein Lieblingsbeispiel ist immer der Bergbau. Dort gibt es ein hohes Lohnniveau, die Firmen und die Mitarbeiter verdienen gut. Zahlen tut das Ganze aber die schlecht verdienende Einzelhandelskauffrau mit ihren Beiträgen. Wäre es nicht sinnvoll zu sagen: Ihr, die ihr mit dem risikoreichen Bereich gut verdient, deckt auch die Mehrkosten der Altersversorgung ab?

derStandard.at: Wie geht es Ihnen damit, wenn die Pensionistenvertreter jetzt massive Pensionserhöhungen fordern?

Pinggera: Zunächst muss man sagen, dass ein Vertreter immer die Interessen seiner Gruppe vertritt, das ist klar. Die Aufgabe wäre allerdings, einen gesellschaftlichen Konsens zu finden, der nicht eine Gruppe überfordert. Wenn jetzt ein Erwerbstätiger, der Teile seines Lohnes für die nicht mehr Erwerbstätigen hergibt, selber krisenbedingt weniger bekommt, aber sieht, dass die Pensionisten über die Inflationsabgeltung hinaus mehr bekommen - dann ist natürlich der ungeschriebene gesellschaftliche Konsens namens Generationenvertrag nicht gerade gefördert, um nicht zu sagen gefährdet. Wenn ich von den Aktiven ein Solidaropfer fordere, dann würde ich mir als junger Mensch wahrscheinlich erwarten, dass auch die ältere Generation sagt: Ein kleiner Verzicht ist in Ordnung für mich. (Anita Zielina, derStandard.at, 24.8.2009)