Reibereien zu Hause lieferten den Hauptgrund, weshalb Ida Palme 1933 den Entschluss fasste, ein Stück Meer zwischen sich und ihre Heimatstadt zu bringen. Auf eine Zeitungsannonce hin ging sie nach London. Was jetzt kommt, ist ein Emigrantenschicksal: Müdigkeit, schmerzende Füße, Geld-sorgen, Zorn, Verbitterung.

Bild: Arno Geiger

Je weiter es zurückgeht, desto farbloser wird das Wenige, das sich von Ida Palme überliefert hat. Geboren in St. Pölten im Jahr 1901 als älteste Tochter einer Hausfrau und eines aus Böhmen zugewanderten Barbiergehilfen und späteren Polizisten. Die Kindheit muss von Not und Arbeit geprägt gewesen sein. Wenn eine der vier Töchter die Lebensbedingungen beklagte, sagte der Vater:

Betrachte den Sternenhimmel und das Universum, dann wirst du erkennen, dass du ein Nichts bist.

Seinen Eltern gegenüber kann man allerhöchstens beinahe fair sein, für Außenstehende ist es schwer zu beurteilen, ob eher das Gute oder das Schlechte erzählt wird. Der Vater habe das Nichts gelobt, und die Mutter sei ständig beschäftigt gewesen. Ruhig auf einem Stuhl gesessen sei sie nur beim Beten oder wenn sie dem Vater beim Essen zugeschaut habe.

Noch während des Ersten Weltkriegs gingen die zwei älteren Töchter nach Ungarn in den Dienst und blieben dort bis in die 20er-Jahre. Sie kehrten zurück, als die Zeiten schlechter wurden. Doch Fuß fassen konnte Ida Palme auch in St. Pölten nicht. Arbeit hatte sie selten, und das Einvernehmen mit den Eltern soll miserabel gewesen sein.

Sie redeten mir nur drein. Ich hatte sie alle satt.

Die Reibereien zu Hause lieferten den Hauptgrund, weshalb Ida Palme 1933 den Entschluss fasste, ein Stück Meer zwischen sich und ihre Heimatstadt zu bringen. Auf eine Zeitungsannonce hin ging sie nach London. Ihr Gepäck bestand aus zwei Pappkartons.

Bei der Überfahrt wurde mir speiübel. Als ich mich kurz nach dem Landgang nackt ausziehen und von Ärzten einer Visite unterziehen lassen musste, habe ich mich übergeben.

Es ist keine leichte Stelle

Der Bedarf der Engländer an billigen Arbeitskräften war weiterhin enorm. Das Königreich inserierte in österreichischen Tageszeitungen und bot jungen Frauen Aufenthaltsgenehmigungen an, wenn sie sich verpflichteten, mindestens vier Jahre in Haushaltsberufen zu arbeiten. "Domestic permit" nannte sich das, vergleichbar mit der Sonderregelung für osteuropäische Hauspflegerinnen im Österreich unserer Tage. - Ida Palme war eine von Tausenden, die nach dem Köder schnappten und hochgezogen wurden in eine dunkle Welt.

Was jetzt kommt, ist ein Emigrantenschicksal, das nichts mit der Vorabendserie Das Haus am Eaton Place zu tun hat und nichts mit Was vom Tage übrig blieb, einem sehr durchschnittlichen Roman, wie ich finde, einer wie mit dem Beil gezimmerten Ansammlung der üblichen Klischees, herrschaftliche Häuser, Adel, Etikette, Aufgeblasenheit und Getue. Kein wirkliches Wort darüber, was tatsächlich übrigblieb: Müdigkeit, schmerzende Füße, Geldsorgen, Zorn, Verbitterung.

Es ist keine leichte Stelle. Aber sie lassen mich in Ruhe, wenn sie genügend zum Essen haben.

Einmal wird Ida Palme entlassen, weil sie das Kind in den falschen Park geführt, ein anderes Mal, weil sie einen im Waschbecken liegenden Oktopus angeekelt in den Müll geworfen hat. Meistens jedoch erfolgen die Kündigungen, weil die Dienstherren nicht wohlhabend sind und sich nur für die Dauer einer Krankheit oder eines Kindbetts eine Hilfe leisten können. Oft muss Ida Palme eine Stelle verlassen, kurz bevor sie Anspruch auf Urlaub erwirbt.

Anstatt einen Urlaub haben mich die feinen Herrschaften gekündigt. Habe so eine Ahnung gehabt, daß mir das wieder passiert. So spart sich die alte Hexe auch das Weihnachtsgeschenk.

Hat Ida Palme ihren Urlaubsanspruch erreicht, verbringt sie die freien Tage als Aushilfskraft an der Seaside. Sie will Geld für den Winter und für den Gasautomaten weglegen, in den sie Münzen werfen muss, um es warm zu haben. Selbst die Wochenenden, die ihre Dienstgeber auf dem Land verbringen, sitzt sie winters in deren Wohnungen ab, um Heizkosten zu sparen - bis sie verpetzt und gefeuert wird; wieder einmal.

Aufgrund ihrer defizitären Bildung bleibt Ida Palme nach Ablauf der vier Jahre im Dienst. Daran ändert auch der Krieg nichts, doch drängen jetzt zusätzlich zu den Wirtschaftsflüchtlingen jüdische Frauen auf den Arbeitsmarkt, die mithilfe der "domestic permit" ihr Leben retten können. Vier Jahre Putzen und Kochen, das ist es wert, selbst wenn man in Wahrheit Medizin oder Kunstgeschichte studiert hat.

Ida Palme trifft sich wöchentlich mit anderen Österreicherinnen im Park, dort werden die Frauen als Bloody Germans beschimpft, ansonsten lässt man sie in Ruhe. Sie lauschen den Musikkapellen und bereden ihr misery Leben in der Service. Jahre später, 1965, wird Ida Palme nach Österreich schreiben:

Diese Woche ist einer der besten Statesman von England gestorben. Viele Leute warteten einige Stunden, den Churchill aufgebahrt zu sehen. Ich habe es gestern Abend im Fernsehen gesehen. Ihr auf jeden Fall habt eine schlechtere Anschauung von diesem Mann als ich.

Das Königreich hat den Krieg mithilfe seiner Verbündeten gewonnen. Trotzdem verschärft sich die wirtschaftliche Situation nach 1945 auch auf der Insel. In der Lebens- und Haushaltsrechnung von Ida Palme wird das Vorhandensein zahlreicher Sorgen schon immer vorausgesetzt, aber so entschieden wie jetzt beschränkte sich die Rechnung früher nie auf ein lapidares - eine Sorge mehr.

Die Verwandten in Österreich, die halb am Verhungern sind, sind Teil der Misere. Pakete, die für zu Hause bestimmt sind, werden von der britischen Zollbehörde beschlagnahmt. Weder ist es erlaubt, Lebensmittel ins Ausland zu schicken, noch dürfen Dinge versandt werden, die neu sind. Als Ausländerin hat Ida Palme besonders große Angst davor, sich etwas zuschulden kommen zu lassen, deshalb hält sie sich an die Bestimmungen und verschickt nur das, was ihre Dienstherren ihr an Ab- und Weggelegtem überlassen. Diese Hilfspakete sind in St. Pölten nicht immer willkommen.

Was du von einem mottenzerfressenen Mantel schreibst, beruht auf keiner Wahrheit, ich habe niemals so was gesandt.

Und alle paar Monate wird das Porto erhöht. Und alle paar Monate steigt der Preis für ein Busticket. Ida Palmes Leben dreht sich immer mehr um Geld oder besser, um das Fehlen von Geld. Bekanntlich redet niemand mehr darüber als der, der keines hat.

Es ist ein teures Leben in London. Die vielen Kamine auf den Hausdächern, die Ida Palme bei ihrer Ankunft so gefallen haben, sieht sie jetzt durch die Arme-Leute-Brille, als Zeichen dafür, wie klein die Wohnungen in den Häusern sind - und trotzdem zu teuer für eine alleinstehende Haushaltshilfe. Dort, wo billige Wohnungen zu haben sind, gibt es überdies niemanden, der sich Dienstboten leisten kann. Deshalb wird Ida Palme zornig, wenn die Busfahrer streiken, um höhere Löhne zu bekommen. Selbst von den Arbeitern bis hinunter zu Ida Palme gibt es noch ein gravierendes Klassengefälle.

Sie bleibt ein Unglücksmensch

Alles steigt von Woche zu Woche. Die blöden Angestellten von Transportservice und von die anderen politischen Workersgenossenschaften haben keine Rücksicht mit den Menschen, ob sie die hohen Preise bezahlen können oder nicht. Aber wenn sie am Samstag für die Eintrittspreise der Footballspiele so viel Geld ausgeben, da kann man sehen, diese unverschämte Masse von Männern, und Bier trinken und dann fortwährend streiken, wenn ihnen etwas nicht zugestanden wird. Und immer müssen es Leute wie ich aus der Tasche bezahlen.

Langsam füllen sich wieder die Auslagen der Geschäfte. Was die Dinge kosten? Frage nicht. Ida Palme kann lediglich davon träumen, sich mehr als das Nötige zu leisten. Nur eine Sprungfedermatratze schafft sie sich wegen andauernder Rückenschmerzen an - jetzt will sie aus dem Bett gar nicht mehr heraus. Aber aufstehen muss sie um sechs, und oft kommt sie nicht vor zehn in der Nacht zurück. In ihrer kargen Freizeit löst sie die Preisrätsel der Zeitschriften, schickt die Lösungen ein und wettert gegen die ständig steigenden Portogebühren. Als sie für kurze Zeit einen Freund hat, ist das einzige Ergebnis dieser kurzlebigen Beziehung ein Faible für Fußballwetten. Aber Glück haben immer nur die anderen. Ida Palme ist überzeugt, wenn ihre Herrschaften nur ein einziges Mal bei den pools einen Tipp abgeben würden, wäre ihnen ein Gewinn sicher.

Ich muss noch immer nur vom Glück reden, ohne eines zu haben. Es gewinnen immer Leute, die ohnedies wohlhabend sind.

Sie hofft, dass der schwarze Kater ihres Dienstherrn, der auf dem Tisch liegt, während sie die Poolcoupons ausfüllt, den Ausschlag gibt, dass auch für sie bald bessere Zeiten beginnen. Aber sie bleibt ein Unglücksmensch, zunehmend abgearbeitet und krank, eine zornige, ängstliche, grollende Frau.

Im September 1956 wird sie von einem Auto angefahren, und die Versicherung des Unfallverursachers weigert sich sogar, ihr einen neuen Mantel zu bezahlen. Wenn sie vor Gericht ziehen wollte, müsste sie eine Kaution von 100 Pfund hinterlegen für den Fall, dass sie den Prozess verliert. Dann wäre das Ersparte von einem Jahr dahin. Das will Ida Palme nicht riskieren, weil sie glaubt, die Reichen hätten sich gegen die Armen verschworen.

In die Briefe, die sie an ihre Schwester in St. Pölten richtet, mischen sich mehr und mehr englische Brocken. Aber weiterhin kann man das ganze Gewicht des Lebensdesasters spüren. Es gibt darin keinerlei Siege. Die kleinen Erfolge, wenn Ida Palme einen Dienstherrn aus Rache für sekkantes Verhalten um einige Schillinge betrügt, sind nicht viel wert. Entsprechend erleichtert ist sie, als sie den Dienst im Februar 1961 quittieren kann.

Ich hätte keinen Tag länger aushalten können, da ich komplett am Ende bin mit meinen Kräften.

Ida Palme geht jetzt öfters ins Kino und in die öffentliche Bücherei, die für die old Rentners kostenlos ist. Nebenher arbeitet sie fünfmal in der Woche drei Stunden, weil die Preise weiter in die Höhe steigen. Die Haare lässt sie sich in einer Hairdressing-Schule machen, wo es wenig kostet. Dort liest sie über den großen Eisenbahnraub und über die vielen Bankrobberies, sie kommt aus dem Staunen nicht heraus, was diesen Gaunern alles gelingt.

Und auch diese Beatles sind alle well off. Jeder konnte sich ein schönes Landhaus kaufen mit Gärten, großen Schlitten und Dienstboten. Die Mädchen sind ganz verrückt, wenn diese Buben wo auf-treten.

Und sie, Ida Palme, nach fünfzig Jahren Arbeit? Bis jetzt kein Glück so far. Sie stirbt 1965 nach kurzer Krankheit. Ja, wenn man ein Glück hätte, dann könnte man verschiedenes unternehmen, aber alle meine Versuche sind umsonst, merkte sie in einem ihrer letzten Briefe illusionslos an. Und weiter: Ich bin eine verbrauchte Frau.

(ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 22./23.08.2009)