STANDARD: Wir sind immer in Zeitnot. Das trotz etlicher Innovationen, mit denen wir eigentlich Zeit sparen sollten. Was passiert mit uns?

Rosa: Das ist auch die Ausgangsfrage meiner Überlegungen: Wohin geht die Zeit, die wir sparen? Moderne Gesellschaften sind ungeheuer effizient im Zeitsparen. Es gibt praktisch kein technisches Gerät, das diese Funktion nicht erfüllen soll. Es ist aber auch so, dass wir viel Zeit haben - etwa Freizeit. Das Gefühl der Zeitknappheit erfahren wir über eine Verdichtung von Handlungen in Zeiteinheiten. Wir tun mehr - in unserer Arbeits- wie in unserer Freizeit.

STANDARD: Ist es tatsächlich so, dass wir mehr tun? Ist es nicht auch häufig so, dass wir uns (zu) viel vornehmen, um dann nichts vorangebracht zu haben?

Rosa: Ja. Das gibt es immer wieder. In ganz schlimmen Fällen kann das in Depression oder Burnout kippen. Dann, wenn man das Gefühl hat, vieles tun zu müssen und es aus einer gewissen Überforderung heraus nicht mehr tun zu können. Hinzu kommt, dass uns Entscheidungen immer schwerer fallen. Die Polarisierung zwischen Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung steigt. 

STANDARD: Sind wir Opfer unseres Zeitgefühls?

Rosa: Wir befinden uns in einer seltsamen Mischlage. Einerseits sind wir total frei - in dem, was wir tun, kann uns niemand etwas vorschreiben. Andererseits leben wir in einem gnadenlosen Hamsterrad. Und fast alles, was wir tun, rechtfertigen wir mit der Semantik des Müssens. Wir müssen uns um einen neuen Telefontarif kümmern, wir müssen die Steuern machen ... So kann es bis zu einer Ununterscheidbarkeit von Freiheit und Zwang kommen.

STANDARD: Gibt es Entschleunigungs-Optionen?

Rosa: Es gibt Mikro-Handlungsmöglichkeiten. Etwa die Entscheidung, im Kalender einfach auch mal „frei" einzutragen. Wichtig sind Entschleunigungsroutinen wie regelmäßiger Sport. An denen sollte man stur festhalten. Die erstaunliche Erfahrung ist nämlich, dass man damit keine Zeit verliert, sondern diese als Zeitgewinn wahrnimmt. Diese Form der funktionalen Entschleunigung hilft uns dabei, im Hamsterrad zu bleiben und dort zu überleben.

STANDARD: Die Alternative ist, ganz auszusteigen?

Rosa: Das sind immer sehr individuelle Szenarien. Das Zeitproblem ist an sich im System begründet. Es gab schon immer diese Vorstellungen eines Ausstiegs - eine elegante Variante dafür gibt es aber nicht. Wenn wir wirklich Entschleunigung wollen, müssen wir einen Preis dafür zahlen. Es kann nicht alles so bleiben, wie es ist, nur ein wenig langsamer. Da bin ich stur. Das geht nicht. 

STANDARD: Sie sehen aber Möglichkeiten, dem System Dynamik zu nehmen? 

Rosa: Ja, etwa durch die Einführung eines Grundeinkommens. Wodurch der Wettbewerb, der einen Hauptmotor dieser extremen Beschleunigung darstellt, zurückgehen würde. Sicher würde dann Innovationstätigkeit und Ähnliches ebenfalls zurückgehen. Das besorgt mich aber nicht, weil ich denke, dass wir genügend Innovationen haben und vieles, was uns als Innovation verkauft wird - etwa neue Handys etc. -, keine Verbesserungen für uns oder unsere Lebensqualität darstellen.

STANDARD: Was trägt noch zur Entschleunigung bei?

Rosa: Wirtschaftsdemokratische Elemente. Wie etwa, dass Produktion nicht zum Selbstzweck wird. Innovation und Wachstum brauchen wir aktuell nicht, um Sachprobleme zu lösen, sondern um das System zu erhalten. Und: Wir brauchen eine neue Definition von Lebensqualität. Individuell und auch im Kollektiv dachten wir, immer mehr zu haben trage zu mehr Qualität bei. Jetzt stelle ich fest, dass die Wahl zwischen 3000 Handytarifen und 4000 Veranlagungsformen mich belastet. Wir sollten das Leben als resonant erfahren - das gewinnen wir nicht durch technische Effizienz.

STANDARD: Wie gehen Sie mit Zeit um?

Rosa: Es ist nicht so, dass ich den Stein der Weisen gefunden hätte. Ich habe dieselben Probleme wie alle anderen auch. Ich versuche durch relativ stures Festhalten an Dinge, die mir wertvoll sind, mehr Zeit zu haben. Weil ich weiß, dass reich an Zeit nur der ist, der Zeit verschwendet. In der Praxis geht es mir aber oft so, dass mir nichts zu schnell gehen kann und ich nichts so sehr hasse wie Zeitverschwendung. (Heidi Aichinger, DER STANDARD, Printausgabe, 22./23.8.2009)