Ein Stinkefinger für lästige Verehrer: Die japanische Aktrice Hikari Mitsushima als Yoko – in "Love Exposure"  pflegt sie eine ungewöhnliche (Liebes-)Beziehung zum jugendlichen Helden.

 

Foto: Top-Kino

Wien - Menschen, die noch erlebt haben, wie Volksschulkinder zur verpflichtenden Beichte geschickt werden, können sich vielleicht erinnern: In jungen Jahren herrscht gelegentlich eine gewisse Verlegenheit um Sünden. Vor der Geschlechtsreife musste man sich im Beichtstuhl mit Kleinigkeiten über die Runde bringen: "Ich habe meine Mutter angelogen" , "Ich war frech" , "Ich habe meinem Bruder ein Zuckerl gestohlen". Die zehn Vaterunser, die das abgolten, wurden dann schon in der Sorge gebetet, beim nächsten Mal wieder fast ohne Sünde dazustehen.

In Sion Sonos grandiosem Film Love Exposure (Ai no mukidashi) kommt eine ganz ähnliche Situation vor. Das ist durchaus überraschend, denn Katholizismus und Japan würde man nicht sofort miteinander in Verbindung bringen. Hier ist es aber so, dass Yu, der jugendliche Held, in einem sehr frommen Haushalt aufwächst. Die Mutter stirbt jung, sie wird zu einer zweiten Jungfrau Maria für den hinterbliebenen Sohn und seinen Vater, der sich zum katholischen Priester weihen lässt. Der Außenseiterstatus, der mit diesem religiösen Bekenntnis einhergeht, relativiert sich aber bald in dem frenetischen Durcheinander aus Obsessionen und Kulthandlungen, das hier über die Dauer von vier Stunden entsteht - und sich am Ende doch irgendwie stimmig auch wieder auflöst.

Sünden der Großstadt

Zu Beginn ist Yu jedenfalls auf der Suche nach einer Sünde. Er findet die passende Verfehlung auf den Straßen von Tokio. Yu bekommt Anschluss an eine Gruppe von Jungen, die "upskirts" fotografieren, Bilder der Unterwäsche von Mädchen, unbemerkt aufgenommen im Treiben der Stadt. Die akrobatischen Posen, die dafür manchmal erforderlich sind, werden in Love Exposure in einen frivolen Tanz überführt, der nächste Schritt ist dann nicht mehr weit: Yu verkleidet sich in Manier der berühmten Manga-Heldin Sasori (der Film Lady Snowblood von 1973 diente Quentin Tarantino als Inspiration für Kill Bill).

In diesem Kostüm lernt Yu das Mädchen kennen, das ihn aus seiner Unschuld retten könnte. Aber Yoko liebt fortan Sasori, und als es sich im Lauf der komplizierten Geschichte ergibt, dass Yoko mit ihrer Mutter bei Yu und seinem Vater einziehen, leben die Liebenden wie Brüderchen und Schwesterchen nebeneinander, anstatt ihre Liebe endlich zu konsumieren.

Zu diesem Zeitpunkt hat aber auch die katholische Kirche schon ein Gegengewicht bekommen: in der Figur der lesbisch konnotierten Koike. Sie gehört der Zero-Kirche an, einer Sekte, hinter der unschwer die Bewegung Aum Shinrikyo zu erkennen ist, die in den 90er-Jahren mit einem Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn die japanische Gesellschaft erschüttert hat. Die letzten Dinge (die in die Zuständigkeit der Religion fallen) und die vorletzten Dinge (Angelegenheit der Popkultur, der Mode, der Sexfilmindustrie) wirbeln in Love Exposure wild durcheinander. Das scheinbare Chaos der Bezüge prägt auch den Soundtrack, der von Japan-Pop zum Beethoven-Zitat wechselt.

Bei all der Materialfülle ist Love Exposure aber im Grunde eine klassische Liebesgeschichte, nur unter den Bedingungen einer übermächtigen symbolischen Ebene. Einfach so verliebt zu sein ist ein Ding der Unmöglichkeit in einer Kultur, die alles in ein absurdes Theater zu verwandeln droht. Sion Sono liebt diese Absurditäten, das weiß man aus früheren Filmen wie Strange Circus. Hier aber sucht er vier Stunden lang nach einem Durchbruch zu der wahren Passion, in der Sünde und Glück, Liebe und (kleiner wie großer) Tod zusammenfallen. (Bert Rebhandl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13.8.2009)