Rosina S. lässt sich nur von einer Seite fotografieren. Sie will nicht, dass man ihr kaputtes Auge sieht.

Foto:derStandard.at/Eder

Für ihre Gäste holt Rosina ihr schönstes Porzellan heraus. Sie selbst trinkt keinen Kaffee.

Foto:derStandard.at/Eder

Auf dem Regal im Wohnzimmer hat sie alle Schätze aufgestellt. Vor allem die Enkel sind für Rosina wichtig.

Foto:derStandard.at/Eder

Von der neuen Mindestsicherung hat Rosina S. noch nichts gehört. "Das wäre nicht schlecht", sagt sie, als sie erfährt, dass dann jeder mindestens 733 Euro im Monat bekommt. Die 53-Jährige ist schon lange arbeitslos. Mit 530 Euro Notstandshilfe vom AMS, 142 Euro vom Sozialamt und 83 Euro Wohnbeihilfe bestreitet Rosina ihren Alltag. "Man kommt halt so durch" erklärt sie. "Das Brot kriege ich beim Hofer schon um 79 Cent, den Zucker beim Spar um 97 Cent", rechnet sie vor. Die blauen Flip-Flops, die sie trägt, hat sie um einen Euro gekauft.

Rosina S. hat immer Schmerzen

Rosina ist eine von 400.000 armen Menschen in Österreich. Im Alter von zweieinhalb Jahren ist sie von einem 10-jährigen Bub in einem Weinkeller die Treppe hinunter gestoßen worden. "Da habe ich mir den Fuß gebrochen, das haben sie gesehen, weil er verdreht war", erklärt die Notstandshilfeempfängerin. Was die Ärzte allerdings übersahen, war, dass sich ihre Hüfte verschoben hatte. Auch Rosinas Auge ist verletzt worden, sie schielt seit ihrem Unfall. "Ich kann nicht lange sitzen, nicht lange stehen. Schwer heben soll ich auch nicht", sagt Rosina. Sie hat Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Während des Geprächs verlagert sie das Gewicht immer von einer Seite zur anderen, um die Schmerzen beim Sitzen erträglich zu machen.

Sie sitzt auf einem hellen Polstersessel im Wohnzimmer ihrer Zwei-Zimmer Wohnung. Das braun gemusterte Plüschkissen, auf das sie sich lehnt, gehörte früher ihrer Mutter. "Das ist gut fürs Kreuz", erklärt Rosina. Die Möbel im Wohnzimmer sind bunt zusammengewürfelt. Das Sofa ist blau gemustert, eine Tagesdecke schont den Bezug. Auf dem hölzernen Beistelltisch steht eine Schachtel mit Taschentüchern, aus der Rosina ein Tuch zieht, um sich den Schweiß abzuwischen. Sie macht die Tür zum Schlafzimmer auf, damit es etwas durchzieht. "Aber das ist nicht besonders schön", sagt sie vorwarnend. In dem kleinen Raum steht ein weiteres Sofa und am Boden liegt eine Matratze.

"Ich habe Angst gehabt, dass ich versage"

Als Kind hätte sie einen "Fehler" gemacht, wie sie sagt. Sie wollte unbedingt auf die Sonderschule, zu ihrer Schwester. "Ich habe Angst gehabt, dass ich in der Hauptschule versage, dass ich da nicht mitkomme", sagt Rosina. Also habe sie sich geweigert, auf eine normale Schule zu gehen. Das Taschentuch in ihrer Hand knüllt sie immer wieder fest zusammen, um es gleich darauf wieder auseinander zu ziehen.

"Armut ist nicht ein Mangel an Einkommen, sondern ein Mangel an Möglichkeiten", erklärt Sozialexperte Martin Schenk von der Diakonie Österreich. Wenn manche Menschen also annehmen, dass mam mit einem Einkommen von 700 Euro nicht arm ist, weil sie selbst - etwa als Student - mit derselben Summe gut ausgekommen sind, ist das laut Schenk falsch. Studierende hätten, statistisch gesehen, die Möglichkeit "herauszukommen". "Diese Möglichkeiten sind bei Armutsbetroffenen nicht mehr vorhanden. Sie haben keine positive Zukunftsperspektive", erklärt er den Unterschied.

Mit 17 hat Rosina zum ersten Mal geheiratet

Rosina hat sieben Geschwister. An der Wand hängt ein Bild der Großfamilie. "Ich nenne sie immer die Monster", erzählt sie und lacht. Sie selbst ist nicht auf dem Bild zu sehen. "Damals war ich im Clinch mit meinen Geschwistern", ist das Einzige, was sie dazu sagt. Rosina hat vier Söhne zur Welt gebracht und war drei Mal verheiratet. Den ersten Mann, mit dem sie alle vier Kinder hat, hat sie mit siebzehn geheiratet. "Ich hab mir das damals eingebildet. Meine Schwester hat mit achtzehn geheiratet, ich wollte sie übertrumpfen", erzählt sie.

Inzwischen haben auch Rosinas Söhne Kinder. Auf den dunklen Regalen im Wohzimmer stehen viele Fotos von ihren Enkeln und ein altes Bild von ihr. Damals hatte Rosina noch langes, dunkelblondes Haar. Heute trägt sie eine Kurzhaarfrisur. Vor einem Monat war sie beim türkischen Friseur ums Eck, der Haarschnitt dort kostet zehn Euro. "Die Frisur ist schon etwas herausgewachsen", kommentiert sie ihr Haar. Am Ansatz ist bereits ihre inzwischen graue Haarfarbe zu sehen. 

"Jeden Tag nach der Arbeit habe ich geweint"

Seit der Scheidung von ihrem dritten Mann, der aus "grundloser Eifersucht handgreiflich" geworden ist, muss Rosina die 266 Euro für die Gemeindewohnung im zehnten Wiener Gemeindebezirk zahlen. Vorher hat das ihr Mann übernommen. "Ich bin auch selber schuld, irgendwie", sagt sie über ihre Situation. "Aber ich kann nicht den ganzen Tag arbeiten. Ich würde gern gehen, aber ich schaffe es nicht. Ich habe zwei Monate als Verpackerin gearbeitet, von sieben bis vier Uhr, das war unmöglich. Jedesmal, wenn ich nach der Arbeit heimgekommen bin, habe ich geweint, weil ich solche Schmerzen gehabt habe", erzählt sie. Rosina hat auch schon Nachtschichten bei der Post geschoben, im Supermarkt, als Fensterputzerin und als Kellnerin "gehackelt", wie sie sagt.

Seit sie allein ist, muss Rosina noch mehr sparen. Ob sie sich selbst als arm bezeichnen würde? "Ich kann halt leben damit. Ich bin so aufgewachsen, meine Eltern haben auch nicht viel gehabt. Ich bin nicht heikel. Hauptsache, was zum Essen ist da. Beim Amt gibt es andere, die ärmer dran sind. Ich bin mit dem zufrieden, was ich habe", sagt sie.

Im vergangen Jahr hat die Fernwärme wegen nicht bezahlter Rechnungen die Heizung abgeschaltet. "Ich werde darum nicht die Heizung aufdrehen. Ich schwitze eh immer so, auch im Winter. Jetzt zahle ich halt nur für das Warmwasser", sagt sie. Die offene Rechnung der Fernwärme hat die Volkshilfe für Rosina bezahlt. Trotzdem will sie es vermeiden, dass ihr die Heizung noch einmal abgedreht wird. "Da kauf ich dann halt einmal nichts oder weniger ein".

Fernsehen als Zeitvertreib

"Den Strom dürfen sie mir aber nie abdrehen", sagt Rosina und lacht. Dann kann sie nämlich nicht mehr ihre "Altweiberserien", wie sie es nennt, im Fernsehen anschauen. Rosina geht nicht gerne alleine raus. Da bleibt sie lieber daheim und sieht fern. Die Enkel bieten die einzige Abwechslung. Früher ist sie oft zum plaudern in den elften Bezirk zu ihrem Vater gefahren. Später, als er krank war und die Mutter schon tot, hat sie ihn gepflegt. "Das war noch mein einziger Halt", sagt sie.

Für das Begräbnis ihres Vaters musste jedes der Geschwister 350 Euro zahlen, eine große Menge Geld für sie. "Mein Vater war Spieler, das Geld, das meine Eltern auf die Seite gelegt hatten, war weg", erzählt die 53-Jährige. Mit ihrer ältesten Schwester, die auch Sozialhilfe empfängt, spricht sie seither nicht mehr. Sie hat ihren Teil für die Beerdigung nicht gezahlt. "Die hat mich im Stich gelassen", sagt Rosina.

Rosina S. war nie im Urlaub

Im Urlaub war Rosina noch nie. Bis ins Burgenland zu ihrer Schwester, weiter ist sie noch nie gereist. Was sie sich denn kaufen würde, wenn sie mehr Geld hätte? "Ich würde meine Schulden abbezahlen", sagt sie ohne zu zögern. Von "früher" habe sie noch Erlagscheine bei "Quelle" und "Universal" offen. "Das ist mir wichtig, den Exekutor brauch ich nicht da herinnen. Es gibt eh nichts zum Holen", erklärt sie. Hin und wieder nimmt der jüngste Sohn einen der Erlagscheine mit und zahlt sie ein. "Der hat mir gesagt, dass er jetzt was Besseres ist", sagt sie und lächelt nicht ohne Stolz. Er ist Behindertenbetreuer und will im nächsten Jahr die Matura nachholen.

Mittlerweile hat Rosina die Jobsuche aufgegeben. Zu den Bewerbungsgesprächen, die ihr das AMS vermittelt, geht sie hin. Auf den versprochenen Anruf des potenziellen Arbeitgebers wartet sie aber nicht mehr. "Die wollen alle eine 20-Jährige mit 30-jähriger Erfahrung. Fürs Arbeiten bin ich zu alt und für die Pension bin ich zu jung", sagt sie resigniert. Sie strebt eine Invaliditätspension an. Die wurde ihr bis jetzt aber noch nicht zuerkannt. Im Dezember wird sie einen neuen Antrag einreichen. (Lisa Aigner und Teresa Eder, derStandard.at, 14. August 2009)