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Wisent-Wege kreuzt man mit ziemlicher Sicherheit nur im Tierpark von Bialowieza. Der blieb aber fast so naturbelassen wie der Nationalpark - nur ein Gehege trennt den Menschen von einer Tonne Säugetier.

Foto: dpa/Oliver Weiken

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Polens ältesten Nationalpark erreicht man auch relativ gut mit der Bahn. Zwischen Wien und Warschau (Bahnhof Zachodnia) verkehrt täglich ein Nachtzug, vom Bahnhof Wschodnia kommt man mit Regionalzügen (eventuell mit Umsteigen in Czeremcha) nach Hajnowka weiter. Von dort starten direkte Busse nach Bialowieza. Eventuell kann man eine Nacht in Warschau einplanen, denn die Weiterfahrt mit Regionalzügen dauert zwischen fünf und sechs Stunden. Vor Ort gibt es eine große Anzahl von Betrieben (oft auch Hotels und Pensionen), die Fahrräder verleihen. Die sehr zahlreichen Pferdekutschen eignen sich auch gut als Touristen-Taxi.

Das sogenannte "strenge Schutzgebiet" im Bialowieza-Nationalpark ist nur mit einem Ranger zugänglich. Zurzeit gibt es unter den Parkrangern drei deutschsprachige, die Wanderungen über rund sieben Kilometer und drei Stunden anbieten. Bezahlt wird pro Guide (umgerechnet rund € 40), schließt man sich einer Gruppe an, aliquotiert sich der Preise dementsprechend. Treffpunkt ist das gut gemachte Museum des Nationalparks, das einen ersten Überblick zu Fauna und Flora des Urwalds geben kann. Der Nordpodlassische Bund für Vogelschutz (PTOP) gibt gutes Kartenmaterial für das Gebiet heraus. Nationalparkinfo: www.bialowieza-info.eu

Foto: bialowieza-info.eu

Hinter dem Ortsschild "Bialowieza" beginnt bereits der Wald. Es ist ein Schilderwald mit "Pokoj"-Tafeln, die freie Zimmer anzeigen. Privatunterkünfte zu finden ist hier also kein großes Problem. Einige Vermieter beginnen gerade "Urlaub am Bauernhof" an-zubieten, und zurzeit gibt es vier Hotels in Bialowieza. Das Hotel Zubrowka ist das einzige Vier-Sterne-Haus der Region, dort werden auch Nationalpark-Touren angeboten.

Die lokale Agentur "Rys" ist eben-falls auf das Leben im Urwald spezialisiert und veranstaltet unter anderem eine besondere Führung in der Nacht.

Foto: Best Western Hotels

"Dieser Wald ist voller Geschichten", flüstert Aleksander Waszkiewicz und zieht seine buschigen Augenbrauen hoch, "man muss sie nur lesen können." Er schaut sich um, zeigt auf einen abgeknickten Ast, an dem das Laub noch nicht welkt. Und dort am Baum, "sehen Sie", etwas Rinde ist abgefressen. Jedes Detail könne wichtig sein, bereits die Spur einer Spur könne Aufschluss geben, seien es bloß umgedrehte Blätter oder Steine, die im Matsch versunken sind. Waszkiewicz geht in die Hocke, drückt Farne, Schwertlilien und Bärlauch auseinander: Hufabdrücke im Schlamm, die Fährte sei noch frisch. Ein kurzer Blick genügt: "Zehenspitzengänger, Elch, männlich, etwa zwei Jahre alt."

Der 62-Jährige ist ein Meister im Lesen von Wildtierfährten, ein Detektiv des Waldes. Er trägt eine olivgrüne Uniform, die Schirmmütze lässt ihn ein wenig wie einen Polizisten aussehen. Um seinen Hals baumelt ein Fernglas. Manchmal vergisst er es abends abzunehmen, da er sich so daran gewöhnt hat. "Wenn ich länger als einen Tag nicht hier bin, werde ich unruhig", sagt er. Einmal haben er und seine Frau sogar einen Sommerurlaub in den nahen Masuren abbrechen müssen, weil ihn das Heimweh so sehr plagte. "Im Wald lasse ich alle Probleme hinter mir. Es ist wie eine Reinigung - jedes Mal." Seit 38 Jahren arbeitet Waszkiewicz als Park-Ranger im letzten Urwald Europas, im Nationalpark Bialowieza im Nordosten Polens an der Grenze zu Weißrussland.

Schilder mit "Zimmer zu vermieten" stehen in jedem Vorgarten an der Hauptstraße von Bialowieza. Im Dorf lebt fast jeder der 2000 Einwohner von der wilden Natur und den rund 100.000 Touristen, die der gleichnamige Nationalpark jährlich anlockt. Seit 1921 ist das Gebiet, das sich auf polnischer Seite auf mehr als 10.000 Hektar erstreckt, offiziell geschützt. Auf etwa der Hälfte der Fläche hat der Mensch noch nie eingegriffen, darf die Natur noch natürlich sein.

Ungestörte Wächter

Uralte, knorrige Bäume können ungestört wachsen, manche seit mehr als 400 Jahren. Einige sind groß wie Hochhäuser, 50 Meter und mehr. Wie stumme Wächter der Jahrhunderte stehen sie da. Doch auch das Sterben hat in Bialowieza Zeit, dauert nicht selten ein ganzes Menschenleben: Morsche, vom Sturm gefällte Baumriesen haben Schneisen geschlagen, bleiben einfach liegen, werden von Moosen und Flechten überzogen, vermodern und werden zu Erde. "Der natürliche Kreislauf, ein Wald wie vor 2000 Jahren", schwärmt Aleksander Waszkiewicz, "ein wilder Reichtum, ein Schatz, einzigartig."

Eine derartige Artenvielfalt wird man in Europa kaum mehr finden: Rund 700 Pflanzenarten, mehr als 3000 Pilze und 270 Moose gedeihen im Schatten von Erlen, Fichten, Linden, Birken und Eichen, insgesamt 21 Baumarten. In diesem Dickicht bewegen sich rund 10.000 Insek-ten-, 120 Vogel- und 44 Säugetierarten. Wolfsrudel und Luchse streifen umher, Fischotter und Biber hausen in den Wasseradern.

Die meisten Besucher kommen aber, um den Wisent zu sehen, das Markenzeichen des Nationalparks. Auch wenn die Parkverwaltung freimütig eingesteht, dass die Chancen auf eine Sichtung in freier Wildbahn gleich null sind. Das größte frei lebende Säugetier in Europa, der mächtige, bis zu einer Tonne schwere Wisent, strahlt Majestät und Kraft aus - selbst im Gehege vor den Toren des Dorfes Bialowieza. Die Parkverwaltung wirbt freilich ebenso mit dem "Imperator des Waldes" wie eine polnische Brauerei, die den europäischen Bison nicht nur als Logo auserkoren, sondern auch ihr Bier nach ihm benannt hat: "Zubr - trinken Sie sich stark wie ein Bulle".

Früher jedoch galten die scheuen Tiere mit ihren langen Brusthaaren und den nach oben gebogenen Hörnern als Monster, die direkt aus der Hölle kamen. So wurde die Jagd auf die Kreaturen über Jahrhunderte von polnischen Königen und russischen Zaren als besondere Herausforderung gesehen. Ein riesiges Reservat hat man für das Vergnügen der Monarchen abgeschirmt. Gut für den Erhalt des Waldes - schlecht für den Wisent: 1919 wurde der letzte frei lebende erlegt. Erst 1952 konnten in Bialowieza gezüchtete Tiere wieder ausgewildert werden. Eine Erfolgsgeschichte, für die Waszkiewicz hauptverantwortlich ist: Im letzten Winter hat er 439 Exemplare gezählt.

Doch auch der Urwald kennt Grenzen, eine, um genau zu sein: die nach Weißrussland. Ein drei Meter hoher Stacheldrahtzaun trennt die polnische von der weißrussischen Wildnis. 40 Prozent der Fläche des Nationalparks liegen auf polnischer Seite. Optimal wäre es, wenn die Wisente auch weiter ostwärts wandern könnten, "um den Genpool zu vergrößern und die Tiere resistenter gegen Krankheiten zu machen", sagt Aleksander Waszkiewicz. Rund 300 Tiere leben in Weißrussland. Doch die Behörden in Minsk bleiben hart, die Grenze bleibt auch für Wisente dicht. Gelegentlich tauchen hungrige Einzelgänger im Dorf auf, verwüsten Gemüsegärten, spazieren die Hauptstraße entlang. Hin und wieder kommt es zu Autounfällen. Einmal rammte ein Kleintransporter einen Wisentbullen, oder vielmehr umgekehrt: Totalschaden am Fahrzeug, dem Tier war bis auf wenige Kratzer nichts passiert.

Gerne zeigt Aleksander Waszkiewicz den Besuchern dann Spuren hinter seinem Haus und erzählt die Geschichte, wie er einen schlafenden Riesen im Schatten des Geräteschuppens überraschte. "Ungewöhnlich", meint er, denn es sei selten, dass man die scheuen Tiere zu Gesicht bekomme. Umso wichtiger ist es daher, ihre Fährten zu deuten, sie geben Informationen über das Verhalten der Tiere, sind Fußnoten ihrer Existenz. Etwas Gespür, Fantasie und den richtigen Blick müsse man allerdings haben.

Trittsiegel und gelbe Punkte

Diesen Spürsinn habe er von seinem Großvater gelernt, der oft mit ihm im Wald war und die verschiedenen Trittsiegel deutete. "Doch er lehrte mich vor allem eines: Ruhe zu bewahren und genau zu beobachten." Einmal liefen sie einer Schlange über den Weg, "ich hatte große Angst und wollte weglaufen", doch der Großvater blieb ruhig und sagte nur: "Schau halt genau hin, sie hat zwei gelbe Punkte am Kopf, sie ist ungiftig."

Ganz ungefährlich ist die Arbeit des Park-Rangers dennoch nicht. Einmal, als Waszkiewicz und seine Kollegen einen ausgewachsenen Wisentbullen für eine Untersuchung fangen wollten, rannte das Tier ihn einfach um. Er hatte Glück: Seine Schirmmütze fiel vom Kopf und der Wisent stürzte sich auf das Stück Stoff - Zeit genug, um zu entkommen. Seither gibt es nur drei Dinge, die Waszkiewicz neben gutem Schuhwerk im Wald immer dabeihat: Fernglas, Kompass und diese Mütze, die ihm das Leben rettete.

Im wenigen Monaten wird Aleksander Waszkiewicz in den Ruhestand gehen. Wie viele Park-Ranger ihm noch folgen werden, ist unsicher, denn der Urwald scheint sich mit dem Klimawandel zu verändern, der Grundwasserspiegel ist in den letzten dreißig Jahren um 50 Zentimeter gesunken. Nur von sich selbst weiß Waszkiewicz: "Ich bin ein alter Baum, mich kann man nicht mehr umpflanzen." Sein Fuß stampft dabei so fest auf den weichen Waldboden, als wolle er eine Wisent-Spur hinterlassen. (Oliver Lück/DER STANDARD/Printausgabe/1./2.8.2009)