Ruth Beckermann kritisiert den geringen Stellenwert von Bildung in Österreich. "Es ist menschenfeindlich zu sagen: 'Wozu braucht ein Lehrling eine Matura?'"

"Das Hauptaugenmerk in Österreich liegt auf der Beibehaltung des Status Quo." Dieses ernüchternde Zeugnis stellt die Regisseurin Ruth Beckermann dem österreichischen Bildungssystem aus. Die Angst der Eliten verhindere, dass Kinder aus niedrigeren Schichten dieselben Chancen erhalten wie ihre besser-gestellten Altersgenossen. "Schon im Kindergarten gibt es die Auslese nach Orten und Bezirken." Im Gespräch mit derStandard.at erklärt sie, wieso ihr Sohn keine österreichische Schule besucht hat, warum Österreich ein selektives Schulsystem auf lange Sicht gesehen schaden wird und wieso eine Klassenfahrt nach Auschwitz nicht zwangsläufig dem Rechtsextremismus entgegenwirkt. Die Fragen stellte Teresa Eder.

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derStandard.at: Frau Beckermann, Sie haben schon bei der Interview-Anfrage anklingen lassen, dass Sie das Bildungssystem in Österreich aufregt. Was regt Sie denn im besonderen auf?

Beckermann: Ich würde es gar nicht Bildungssystem nennen, sondern soziales Aussiebesystem. Es funktioniert hierzulande seit Jahrhunderten, indem die Eliten ihre Schulen und ihren Klüngel besetzt halten, um möglichst niemanden anderen reinzulassen. Das zeigt, wie schwach und wenig selbstbewusst die österreichischen Eliten sind.
Wären sie stark als Eliten verankert, hätten sie keine Angst, dass jemand aus einer ganz anderen Schicht oder mit anderem sozialem Hintergrund durch Leistung und ein sachliches Ausleseverfahren hinaufkommt. Dann würden zum Beispiel die faulen Kinder von jemandem, der in Hietzing wohnt, nicht mehr ins Gymnasium kommen oder eben in eine niedrigere Leistungsgruppe.

derStandard.at: Das Argument zu sagen, "Wenn man nur will, dann schafft man den Aufstieg aus eigener Hand", zählt also nicht?

Beckermann: Das schaffen natürlich ein paar, aber es wird ihnen auf jeden Fall schwer gemacht. In mobilen Gesellschaften hingegen nicht. Das Hauptaugenmerk in Frankreich, Amerika oder England liegt auf der Förderung der Kinder, egal woher sie kommen. Das Hauptaugenmerk in Österreich liegt auf der Fortsetzung des Status Quo. Jemand, der aus einer armen oder Ausländer-Familie kommt, soll gefälligst bleiben wo er ist.

Was in Österreich passiert, ist meiner Meinung nach ein Verbrechen an den Kindern. Schon im Kindergarten gibt es die Auslese nach den Orten und Bezirken. Es ist überall so, dass in Nobelbezirken, die Kindergärten ein anderes Publikum haben als anderswo. Aber in Wien kommt dazu, dass man sein Kind nicht in den Kindergarten oder in die Schule des Bezirks geben muss, in dem man wohnt. Das heißt, man kann in Margareten wohnen und sein Kind in Hietzing in die Schule geben, wenn man will. Da geht es nur um das soziale und gesellschaftliche Umfeld.

Die Kriterien der Schulen selber sind, soweit ich das aus meiner eigenen Schulzeit, der meiner Freunde und meines eigenen Sohnes kenne, nicht sachlich. Sie sind emotional. In Österreich läuft alles über Schmäh oder über Neid, Hass und andere Emotionen. Es gibt so wenige sachliche Kriterien. Jetzt wollte man die Matura für alle einführen, was teilweise wieder abgelehnt wurde. Warum? Es ist doch ein sachliches Kriterium, wenn alle die gleichen Fragen haben.

derStandard.at: Die Lehrer wenden ein, dass dann nur mehr das unterrichtet wird, was eben bei der Matura verlangt wird, und es so keinen Gestaltungsspielraum im Unterricht mehr gibt.

Beckermann: Es muss ja einen Kanon an Wissen geben. Ich glaube im Gegenteil, dass die Lehrer einfach Angst davor haben, dass ihre Schule schlecht abschneidet. Eine Versachlichung der Schule in Österreich tut wirklich Not, zum Beispiel beim Notensystem. Es ist nach wie vor so, dass zwischen Lehrern und Schülern so viel auf non-verbaler und emotionaler Ebene läuft, was ungesund ist und der Lust zu lernen abträglich ist.

Es ist eine menschenfeindliche Haltung, zu sagen: "Wozu braucht ein Lehrling eine Matura?" Das heißt: Bildung ist nur dazu da, um Karriere zu machen. Ich habe eine Zeit lang in Frankreich gelebt. Dort gibt es Frauen, die im Supermarkt an der Kassa sitzen und ein Vokabular haben, das ich hier noch nicht an einer Kassa gehört habe. Die lesen in ihrer Freizeit Flaubert oder sonst etwas. Bildung ist doch nicht nur für die Arbeit da. Jemand kann Tischler sein und trotzdem Shakespeare lesen und gut Englisch sprechen.

Wenn man sich ansieht, wie Politiker hier reden und wie klein das Vokabular ist, sieht man ja schon, dass Bildung nicht gerade groß geschrieben wird.

derStandard.at: Wie kann sich das auswirken?

Beckermann: Ich halte das, volkswirtschaftlich gesehen, für schlimm.
Es wurde oft bewiesen, dass die Einwanderer, die nach Österreich kommen, nicht die Gebildeten sind. Weil es in Österreich kein Angebot gibt, gehen die Gebildeteren eben nach England und Amerika. Dorthin, wo sie willkommen sind und Jobs auf anderer Ebene kriegen. Das Ansinnen hier ist entweder sie rauszuschmeißen oder sie unten zu halten. Ich habe in anderen Ländern nie Putzfrauen gesehen, die die Landessprache so schlecht konnten, wie hier in Österreich. Sie denken anscheinend, dass sie immer Putzfrauen bleiben werden. Dann gibt es keinen Grund die Sprache zu lernen.

derStandard.at: Andererseits klagen viele Eltern, dass der Leistungsdruck auf Kinder immer mehr zunimmt.

Beckermann: Dieses blöde Gerede davon, dass man den Kindern die Kindheit nimmt. In Indien gehen die Kinder mit drei Jahren schon in die Schule, bei den frommen Juden lernen die Kinder ab drei die Tora und die Interpretationen. Das schult das Gehirn. Und in anderen Ländern gehen die Kinder spätestens ab fünf in die Vorschule, wo sie spielend lernen. Deswegen zu sagen, dass man ihnen die Kindheit nimmt? Im Gegenteil, sie sind mit anderen Kindern zusammen, anstatt als Einzelkinder an der Mutter zu kleben.

Es gibt diese katholische Annahme, dass die Familie als "Ideal-Familie" funktioniert. Die Mutter zuhause oder nur halbtags arbeitend, damit das Essen am Tisch steht, wenn die Kinder heimkommen. Wo funktioniert das noch so? Österreich ist außerdem eines der Länder, wo Alkoholismus sehr weit verbreitet ist. Wie viele Kinder kommen nachhause und finden die vielleicht arbeitslosen Eltern vor dem Fernseher mit einem Bier in der Hand vor? Ist das so toll? Es ist aber ein absolutes Tabu, hierzulande darüber zu reden. Man sollte eine Studie darüber machen, was wirklich an diesen Nachmittagen passiert. In der Volksschule und im Kindergarten hat man meistens um 11 oder 12 aus. Wie viele Kinder werden danach wirklich gefördert und von wem? Wie viele hängen nur rum?

derStandard.at: Wiener Schüler waren im Mai dieses Jahres in den Schlagzeilen, weil sie in Auschwitz mit antisemitischen Äußerungen aufgefallen sind. Wie kann so etwas passieren?

Beckermann: Anscheinend waren die Lehrer, die sich ja lobenswerterweise für diese Dinge engagieren, nicht ernsthaft genug in der Vorbereitung und haben das als Schulausflug betrachtet. Es ist ja keine Kleinigkeit, mit einer Schulklasse nach Auschwitz zu fahren. Man sollte sich gut überlegen, ob man das macht oder das Thema im Unterricht nicht eher anders angeht. Man sollte mehr über die Täter sprechen als über die Opfer. Gegen die Versuchung, Skinhead oder rechtsradikal zu werden, kommt man nicht an, indem man mit jemandem nach Auschwitz fährt. Da muss man schon sich trauen über die Nazis zu reden und über die Faszination, die für die Ideologie empfunden wurde.

derStandard.at: Ihre Eltern haben den Holocaust überlebt, Sie selbst haben sich viel mit dem jüdischen Leben in Wien beschäftigt. Wie ist denn zu ihrer Schulzeit die NS-Zeit im Unterricht behandelt worden?

Beckermann: Ich habe Glück gehabt, denn unsere Lehrerin war eine Sozialistin, die im Widerstand war. Wir haben deshalb sehr viel darüber gemacht. Generell war Antisemitismus zu dieser Zeit noch sehr stark verankert, was ich auch gespürt habe. Es kamen eben von den Kindern Meldungen wie: "Was, du kennst die zehn Gebote nicht?" Meiner Schwester hat die Geschichtslehrerin entgegengeschleudert: "Man sagt, alle Juden sind intelligent. Du bist der Beweis dafür, dass das ein Vorurteil ist."

Ein Grund, warum wir unseren Sohn in keine staatliche österreichische Schule gegeben haben, war das Kreuz an der Wand. Ich wollte nicht, dass mein Kind unter dem Jesus am Kreuz sitzen muss. Wie kommt er dazu? Was ihm dadurch implizit permanent gesagt wird, so wie es das Volk glaubt,
ist: "Du hast ihn getötet."

derStandard.at: Wo müsste man im Bildungssystem ansetzen?

Beckermann: Bei den Kleinen. Man muss das Rad ja nicht neu erfinden.
Man muss nur in andere Länder fahren und irgendetwas kopieren. Es gibt ja alles. Aber es wird gesellschaftlich nicht gewollt, weil es an etwas rüttelt. Sowohl kirchlich - am Bild der heilen Familie - als auch gewerkschaftlich. Es ist ja unerhört, dass die Lehrer meinen, ihnen gebühren so und so viele Ferien. Dass die Eltern nicht aufgeschrien haben, zeigt, wie wenig Stellenwert Bildung hat. Ich glaube, alles müsste auf eine Förderung der Kinder abzielen. Dass sie die Möglichkeit haben, den ganzen Tag in der Schule zu sein und dort spielen zu können.

derStandard.at: Auf freiwilliger Basis?

Beckermann: Meiner Meinung nach nicht. Gerade bei Kleinfamilien mit Einzelkindern ist es auch für die Kinder nett, mit anderen Kindern zu sein. Dann lernen sie auch, sich in der Gesellschaft wohlzufühlen, zu kommunizieren, ihren Interessen nachzugehen. Außerdem sollen Frauen das Recht haben, genauso viel zu arbeiten wie Männer. Bisher sind die Frauen durch das fehlende Betreuungsangebot überfordert. Deshalb geben viele berufstätige Eltern ihre Kinder in kirchliche Volksschulen - obwohl sie selbst aus der Kirche ausgetreten sind - weil die eine Nachmittagsbetreuung anbieten. Die haben eine Marktlücke entdeckt und dadurch einen unglaublichen Zulauf. (Teresa Eder/derStandard.at, 03.08.2009)