Verstört nimmt die kleine Gesellschaft in "May B" zur Kenntnis, dass die Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte ausgeblasen sind.

Foto: Bricage

Wien - Das Ende der Winterreise von Franz Schubert, Der Leiermann, steht am Anfang einer der wichtigsten französischen Choreografien der 1980er-Jahre: May B von Maguy Marin, eines von drei Stücken der renommierten Künstlerin, die Impulstanz in diesem Sommer groß präsentiert.

"Barfuß auf dem Eise / Wankt er hin und her / Und sein kleiner Teller / Bleibt ihm immer leer", heißt es über den Leiermann, und es nähert sich der Tod. Die zehn Figuren in May B könnten ähnliche Existenzen sein, Leierspieler, die auf das Sterben warten. Die Nähe zu Samuel Beckett ist den gekalkt wirkenden Gestalten anzumerken. Da taucht beispielsweise Pozzo mit Diener Lucky an der Leine auf, zwei Figuren aus Warten auf Godot.

Lucky ist für Beckett auch der Anlass, über den Tanz abzuhandeln. Das hat 1991, also zehn Jahre nach der Uraufführung von May B, die bedeutendste portugiesische Gegenwartschoreografin, Vera Mantero, zu dem Stück Perhaps she could dance first and think afterwards angeregt. Hier wurde die Beckett-Figur in eine feministische Thematik übersetzt.

Marin hält sich noch eher an Becketts existenzialistische Metaphern. Lucky, der Mann an der Leine in Warten auf Godot, tanzt einen "Netztanz", der wie maßgeknüpft zu den Mumien in May B passt, die sich in einer Reuse verfangen zu haben scheinen, aus der es kein Entrinnen gibt. Das "maybe", dieses Vielleicht des Wartens, treibt die vier Figuren in dem Godot-Stück noch zu allerlei Spielen an. Aber diese Spiele wirken wie Echos aus ihren Vorleben.

Schuberts Der Tod und das Mädchen erklingt mit dem Auftritt von Pozzo und Lucky, wie einst, 1978, in Susanne Linkes pathetischem Solo Wandlung, das der Franzose Jérôme Bel in seinem Hauptwerk des choreografischen Konzeptualimus, The Last Performance (1998) von allen vier Darstellern zitieren lässt. Und wie Mantero zeigte auch Bel, wie sehr sich der Tanz bereits vom Existenzialismus entfernt hatte. Was bei Linke Ausdruck der Geworfenheit des Individuums und bei Bel schon eine semiotische Abenteuerreise ist, bleibt in May B noch ganz die Absicht, einen Kommentar zur Gesellschaft abzugeben. Die 80er-Jahre leiteten im Tanz den Abschied vom Existenzialismus und den Beginn eines boomenden Hedonismus ein, gegen den sich den 90ern die Konzeptualisten wandten.

Das Echo der Revolution

Was jenseits der Vorhölle von Marin liegt, das zeigte Anne Teresa De Keersmaeker schon 1983 in Rosas danst Rosas, diesem ersten Zeichen für den Beginn der zeitgenössischen Choreografie in Belgien, das nun wieder bei Impulstanz zu sehen war. Vier so sensible wie toughe Frauen scheinen in eine neue Zeit aufzubrechen. Mit vielen Brüchen und Verzögerungen tanzen sie das genaue Gegenteil zu den Trippelschrittchen, die für die May B-Figuren charakteristisch sind: kraftvolle, schnelle und synchrone Bewegungen.

Keersmaeker projiziert die Idee einer neuen, selbstbewussten Weiblichkeit mit einer atemberaubenden Bestimmtheit auf die Bühne. Zwischen May B und Rosas danst Rosas entwickelte sich die aufstrebende junge Choreografie der Eighties, drehte sich um das Tanztheater von Pina Bausch und die Exzesse eines Jan Fabre. Sowohl May B als auch Rosas danst Rosas berühren immer noch, wenn auch die damals revolutionäre Energie zu einem Echo ihrer selbst geworden ist.

Heute zeigt Impulstanz die jüngste Arbeit von Maguy Marin, Description d'un combat, die erst kürzlich - der Standard berichtete - in Avignon uraufgeführt wurde. (Helmut Ploebst, DER STANDARD/Printausgabe 3.8.2009)