Thomas Strässle: "Salz. Eine Literaturgeschichte" . € 30,80 / 480 Seiten. Carl Hanser Verlag, München 2009.

Coverfoto: Carl Hanser Verlag

Salz ist Leben. So apodiktisch lautet der erste Satz der jüngsten Veröffentlichung des Haubenkochs und Autors Ingo Holland. Eines Buches natürlich über Salz - und über dessen Verwendung in der Küche. Denn, so eine gesalzene Lebensweisheit, "ohne Gold kann man leben, ohne Salz nicht". Als Gewürz, als Speisezusatz ist Salz unersetzbar und unverzichtbar. Wie auch in der Form Natriumchlorid als Kochsalzlösung, als Lebensstoff. Salz ist aber auch ein Stoff der Literatur.

Umso merkwürdiger, dass der Schweizer Germanist Thomas Strässle nun als Erster überhaupt eine Literaturgeschichte dieses Kristalls vorlegt. Woran liegt das? An der bescheidenen Größe der Salzkörner, diesen chemischen Verbindungen aus einem Kristallgitter positiv und negativ geladener Bausteine, sogenannter Ionen, sodass man sie leichthin übersieht und überliest? Dabei ist die Welt-, Wirkungs-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des "weißen Goldes" in den letzten Jahren von Historikern gründlich aufgeblättert worden: in Jean-François Bergiers Une histoire du sel, in Mark Kurlanskys ausgreifendem Salt: A World History, in Paul Cools aufschlussreicher Lokalstudie Salt Warriors: Insurgency on the Rio Grande oder auch in der Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und Moderne des Kölners Jakob Vogel, dessen Haupttitel Ein schillerndes Kristall die prismatischen Eigenschaften der Salzkörner betont.

Wieso sind solche Motivgeschichten dagegen in der Literaturwissenschaft so rar? Weil es dazu umfangreicher Sprachkenntnisse, Neugier, einer Spürnase und einer ausgreifenden Lektüre bedarf? Oder weil universitäre Karrieren behindert werden, wenn man zwar theoretisch über "Interdisziplinarität" meditiert, den Slalom auf den Grenzlinien scheinbar voneinander geschiedener Sparten, Medien und Kulturkreise, solches in der Hochschulpraxis unter der Hand aber immer noch gern als leichtgewichtiger feuilletonistischer Budenzauber abgetan wird?

Aber: Trägt Salz eine gelehrte Literaturuntersuchung? Nach der Lektüre der erhellenden Monografie Thomas Strässles, Schüler Peter von Matts - dieser emeritierte Zürcher Ordinarius ist einer der ganz wenigen Germanisten, die tatsächlich Esprit mit Eleganz vereinen - lautet das Fazit: aber ja!

"Bücher über das Salz haben eine Tradition", so Strässle, "die letztlich bis in die Antike zurückreicht. Schon in Platons Symposion wird das Buch eines nicht namentlich genannten ‚weisen Mannes' erwähnt, ‚worin das Salz eine wundervolle Lobrede erhielt seines Nutzens wegen' - wobei diese Bemerkung vor allem Ausdruck der Verwunderung darüber ist, dass sogar auf eine ‚so geringe Sache‘ wie das Salz von den Dichtern eine Lobrede verfasst worden sei, nicht aber auf einen so großen und herrlichen Gott wie Eros."

Strässles Haliografie, seine Lektüren des Salzes, als polyfones tema con variazone behandelt in historisch-chronologischer Abfolge Natursalze, Glaubenssalze, Sprachsalze, Körper- und Beziehungssalze - somit den Umgang mit Salz als Bild- und Bedeutungsträger wie als Objekt naturwis-senschaftlicher, alchimistischer und philosophischer Projektionen. In teils minutiöser Deutung schreitet Strässle einen gewaltigen Bogen ab, der von der Odyssee, die er originell als Flucht-Epos vor dem Salz liest, über Cicero und Stifter bis zu Friedrich Glauser reicht und Thomas Mann, Paul Celan und Benoîte Groult (Salz auf meiner Haut) einschließt.

Ausführlich kommen die sich durch die Jahrhunderte wandelnden Zuschreibungen und Bedeutungsverschiebungen zur Sprache, bei Grimmelshausen, bei Novalis (hauptberuflich Salinenassessor) und Lichtenberg, bei Nietzsche, Walter Benjamin, Friedrich Dürrenmatt und Peter Weiss. Und bei Sylvie Germain, deren Roman Éclats de sel er graziös ausdeutet.

"Criticism should be a casual conversation", schrieb der englische Dichter Wystan Hugh Auden, der in Kirchstetten in Niederösterreich begraben liegt, in seinem Essayband The Dyer's Hand. Kritik als entspannter Austausch auf Augenhöhe: In seinen besten Passagen erfüllt Strässle dies. Bei seiner Glauser-Exegese etwa. Oder in seinem Auftakt über zwei Märchen der Gebrüder Grimm. Auch in seinem informativen Exkurs über Leonardo da Vincis Letztes Abendmahl.

Darin ist Judas beiläufig negativ markiert - weil er mit dem einen Arm das vor ihm stehende Salzfass, damals eine gesellschaftliche Auszeichnung, umgestoßen hat und mit dem anderen vorgaukelt, zum Brot zu greifen. In anderen Kapiteln dunkelt allerdings ein übertriebener Wissenschaftsjargon die Erkenntnisse ein, die dann nicht "piquant" (René Descartes) wie Salz anmuten, sondern nur "penetrant" . Besonders in der anspruchsvollen Auseinandersetzung mit Texten Johann Georg Hamanns, eines Zeitgenossen der Aufklärung, dessen intellektuelles Profil durch seinen hermetisch-eigenwilligen Stil bis heute schwer fassbar ist, wäre größere Einfachheit und weniger hermeneutische Verstiegenheit ratsam gewesen. Da brach sich wohl der philologische Ehrgeiz Bahn, die Chiffre Salz bei Hamann als mutmaßlich Erster gründlich zu durchleuchten.

So manches ließe sich noch andocken an Strässles Salz. Wieso er beispielsweise Peter Handke zum Mottogeber der Einleitung kürt, mit dem programmatischen, bedenkenswerten Gedanken, dass Salz so wie Segen, Fluch, Zorn, Wahnsinn oder Wüste zu Fremdwörtern abgesunken seien, in früheren Zeiten aber "die großen alten Geschichten" (Handke) nicht nur trugen, sondern erst ermöglichten, und dann dessen Roman Kali von 2007 nicht berücksichtigt, der von Salz durchzogen ist, erscheint inkonsequent.

Am Ende jedenfalls kehrt man zum Auftaktmotto des Alchimisten Elias Artista Hermetica zurück: "Dann warlich, warlich, das glaube der geehrte Leser, daß das Geheimniß von dem Salz sehr schwer zu erfinden ist, und gleich einem Pfad im Sand-Boden, da man nicht errathen kann, ob die Reisenden vorwärts oder rückwärts gegangen seyen." Ohne Salz kein Leben. Und eben auch keine Literatur ohne, Pardon, Pfeffer. (Alexander Kluy, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 01./02.08.2009)