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Höchste Gefahr: Das Foto eines Spitalsarbeiters in San Salvador erregt maximale Aufmerksamkeit zum Thema Schweinegrippe.

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Medienforscher Hans-Mathias Kepplinger.

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Auch die Schweinegrippe wird vorbei gehen – so oder so: Wenn das Publikum das Thema satt hat, sagt der Medienforscher Hans-Mathias Kepplinger im Gespräch mit Doris Priesching.

STANDARD: Finanzkrise, Klimawandel, Grippevirus und immer noch Terroranschläge. Wird die Welt immer gefährlicher?

Kepplinger: Zumindest aus europäischer Sicht wird die Welt immer ungefährlicher. Das sieht man daran, dass die Menschen immer älter werden, dass sie gesünder sind. Zwar nimmt die Zahl der Kranken zu, die Krebsrate nimmt gemessen am Bevölkerungswachstum insgesamt ab. Menschen werden heute oft sehr krank, aber nur deshalb, weil es heute viel mehr Krankheiten erkennen und behandeln kann. Objektiv gesehen werden die Menschen nicht kränker, sondern gesünder. Die Welt wird für uns insgesamt günstiger, und wir leben besser. Trotzdem empfinden wir uns subjektiv in einer zunehmend riskanten Lage.

STANDARD: Also sind die Gefahren konstruiert?

Kepplinger: Zunächst muss man erkennen, dass der Anteil der Beiträge über Dinge, die uns gefährden können in den Medien im Laufe der Zeit immer mehr zugenommen hat, obwohl die Gefahren insgesamt abgenommen haben.

STANDARD: Gibt es eine Konjunktur der Krise?

Kepplinger: Die gibt es. Nehmen wir etwa die Ökodebatte. Die Umweltbelastung ist in den deutschsprachigen Ländern seit Mitte der Siebzigerjahre insgesamt deutlich zurückgegangen. Medienbeiträge über Umweltschäden haben dagegen deutlich zugenommen. Hier gibt es eine gegenläufige Entwicklung, die ziemlich linear verläuft. Innerhalb dieser linearen Entwicklung gibt es immer wieder Schlüsselereignisse. BSE, SARS oder jetzt die Schweinegrippe: Das sind dann einzelne Vorfälle, die aus bestimmten Gründen besonders erregend erscheinen.

Um diese Vorfälle gruppiert sich dann eine Unzahl an medialen Beiträgen, die in der Bevölkerung den Eindruck erwecken, hier ereigne sich etwas ganz besonderes und dass es eine Zunahme von solchen Krisen gibt. Insgesamt ist es nur ein Ausreißer in einer linearen Entwicklung.

STANDARD: Welche Bedingungen muss ein Krisenereignis erfüllen, um zum Ausreißer zu werden?

Kepplinger: Am wichtigsten ist das Schreckenspotenzial, und das ist immer dann der Fall, wenn der berechtigt erscheinende Eindruck entsteht, dass eine große Zahl von Menschen, die sich nicht wehren können, Opfer dieser Bedrohung werden kann. Das war bei Tschernobyl so, bei BSE und Schweinegrippe ist es ähnlich. Dagegen kann man sich nicht wehren.

Zweitens braucht so ein Ereignis ein Gesicht. Bei BSE konnte man diese furchtbar erkrankten Rinder im Bild sehen. Oder bei der Schweinegrippe konnte man Menschen mit Gesichtsmasken sehen. Das erweckt den Eindruck, hier sei höchste Gefahr, obwohl kein Mensch weiß, ob diese Masken überhaupt keinen Schutz bilden.

STANDARD: Die Abbildung ist also ganz wichtig.

Kepplinger: Sie spielt eine entscheidende Rolle.

STANDARD: Gibt es ein Gesetz des Krisenverlaufs?

Kepplinger: Es gibt eine ganz bestimmte Dramaturgie nach der diese Krisen verlaufen. In der Regel gibt es einen langen Vorlauf, den niemand ernsthaft wahrnimmt. Dann passiert ein herausragendes Ereignis. Bei BSE war das eine in Deutschland erkrankte Kuh, die nicht importiert war. Plötzlich wurde das ins zentrale Problembewusstsein geholt. Ein solches Schlüsselereignis erregt Aufmerksamkeit – zum einen unter Journalisten, zum anderen in der Bevölkerung. Die Konsequenz daraus ist, dass Journalisten der begründeten Meinung sind, sie müssen mehr darüber berichten, weil das die Bevölkerung ja interessiert. Also wird mehr darüber berichtet.

Da Journalisten beobachten, was andere Journalisten machen, gewinnen sie den Eindruck, man muss unbedingt die Berichterstattung vorantreiben, denn das sei ein wichtiges Thema. Sie fürchten die Blamage, wenn sie nicht mitmachen: Die Geschichte verschlafen zu haben.
So kommt ein Rückkopplungsprozess in Gang, der sich bis zu einem Kumulationspunkt hochschaukelt. Das geht so lange, bis das Publikum das Thema satt hat. In der Regel bricht die Berichterstattung danach relativ abrupt ab. So wie bei der Schweinegrippe auch: Von heute auf morgen war die Geschichte vorbei.

STANDARD: In der Berichterstattung entdecken Sie eine Bereitschaft, Angstszenarien aufzubauen. Woher kommt diese Bereitschaft?

Kepplinger: Generell gibt es eine große Asymmetrie in Bezug auf bedrohliche und Hoffnung erweckende Ereignisse. Das kann man experimentell zeigen, wenn Menschen in einer Verlustsituation spielen. Dann sind sie bereit, ein sehr hohes Risiko einzugehen, um den Verlust zu beseitigen. Wenn sie in einer Gewinnzone spielen, sind sie eher vorsichtig und ziehen einen kleineren Gewinn einem großen vor. Warum ist die Risikobereitschaft in der Verlustsituation so groß? Die Menschen sind vermutlich durch die stammesgeschichtliche Entwicklung getrieben vom Bedürfnis nach Schadensvermeidung.

Wenn ein Jäger in der Steinzeit ein Reh das er erlegen könnte, nicht sieht: Na gut, dann hungert die Familie eine Woche länger, aber sie lebt. Wenn er aber den Bären nicht sieht, dann ist er tot. Die negative Meldung hat einen viel größeren Informationswert als die Positivmeldung. Wir reagieren auf diese Bedrohungen mit einer intuitiven Abwehrhaltung. Wir konzentrieren uns ausschließlich auf die tödlichen Bedrohungen.

Wenn jemand Angst vor der Bahnfahrt nach Wien hat, dann fragt er sich nicht, ob er sich den Magen verdirbt oder den Arm verstaucht. Ihn interessiert, wie viel Leute kommen im Zug um. Wir konzentrieren uns, weil wir nicht vor allem Angst haben können, auf die existentielle Bedrohung. Sobald die plausibel erscheint, reagieren wir mit größter Aufmerksamkeit und größter Abwehrhaltung. Das ist völlig anders, wenn es um einen großen Gewinn geht. Da sind wir bei weitem gelassener. Wir streben dem nicht so intensiv entgegen, wie wir von der Gefahr wegwollen.

STANDARD: Sich nur auf das Beängstigende zu konzentrieren, klingt wie eine Abwandlung von Watzlawicks "Anleitung zum Unglücklichsein"?

Kepplinger: Das ist eine eingebaute Grundhaltung. Eine Reihe von Journalisten macht sich das auch zunutze, denn damit lässt sich viel Auflage machen.

STANDARD: Kann man sagen, dass die Medien das vorantreiben, woran die Menschen starkes Interesse haben: Nämlich Ängste zu bewältigen?

Kepplinger: Medien bedienen das Erregungspotenzial, das in der Gesellschaft vorhanden ist. Erfolgreiche Medienmacher wissen, dass sie über diese Angsterregung höchste Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken können. Auch beim Film weiß man darüber Bescheid. Hitchcock zum Beispiel: Wie kann man Erregung erzeugen? Hier wird die Imagination frei gesetzt. Das ist die große Kunst.

STANDARD: Hat Ihnen gegenüber schon jemals ein Medienmacher zugegeben, dass er Angst erzeugen will?

Kepplinger: So zynisch ist keiner von denen, die ich kenne. Wir haben zum Beispiel Journalisten gefragt ("Erlaubte Übertreibungen"), ob es nach ihrer Meinung erlaubt ist, Gefahren übertriebener darzustellen, als sie sie selber einschätzen. Rund ein Viertel sagte, es ist nicht erlaubt. Ein Viertel meinte, es sei generell erlaubt. Die Hälfte sagte, es hängt von den Bedingungen ab. Wir fragten auch die Bedingungen ab, zum Beispiel Wettbewerbsdruck. Die meisten sagten, nein. Fast 90 Prozent sagen, es ist dann erlaubt, wenn man durch die übertriebene Darstellung einer Gefahr einen Schaden abwenden kann. Das war bei SARS, BSE oder Waldsterben so: Dann ist subjektiv die Idee, ich muss übertreiben im Interesse der Schadensvermeidung.

Ungefähr 70 Prozent aller Journalisten sind unter diesen Bedingungen bereit, Gefahren übertriebener darzustellen als sie sie selber einschätzen. Sie fühlen sich in der Übertreibung im Recht. Der Trugschluss besteht darin, dass die meisten Journalisten sich nicht klar machen, dass die übertriebene Darstellung von Schäden zur Schadensabwehr wieder Schäden produziert. Die übertriebene Darstellung der BSE-Schäden in Deutschland hat ökonomische Schäden in der Größenordnung von zwei bis drei Milliarden Euro verursacht. Zehntausende sind in der Agrarindustrie für eine gewisse Zeit arbeitslos geworden. 80.000 Rinder sind umsonst geschlachtet worden. Die Lufthansa hatte durch die SARS-Krise pro Monat Mindereinnahmen im Asienverkehr von 50 Millionen Euro.

STANDARD: Die Vogelgrippe hat der Pharmafirma wahrscheinlich auch ein bisschen geholfen.

Kepplinger: Ja gut, aber die Medikamente sind ja nicht alle verkauft. Die hocken zum Teil auf ihren unverkauften Grippemedikamenten.

STANDARD: Manche meinen, die Neue Grippe wurde deshalb hoch gepusht, weil sich die während der Vogelgrippe hergestellten Tamifluberge ihrem Ablaufdatum nähern?

Kepplinger: Interessanter Gedanke, aber so weit ich das nachvollziehen kann, wurde das Thema nicht von der Pharmaindustrie gepusht. Im Gegenteil, es scheint eher unklar, ob die vorhandenen Medikamente überhaupt gegen die Neue Grippe helfen können. Wenn das aus der Ecke gekommen wäre, hätte die Pharmafirma vermutlich ermuntert, die Grippemedikamente zu kaufen.

STANDARD: Welche Bedeutung haben Angstbewältigungsstrategien, nehmen wir zum Beispiel das Ausgrenzen her: Während des Klimawandels ahndeten manche Medien nach Umweltfeinden, jetzt sind es gierige Manager. Welche Projektionen finden statt?

Kepplinger: Solche Medienhypes sind dann effektiv, wenn es einen Bösewicht gibt. Wenn das Negative ein Gesicht hat. Nehmen Sie die Berichterstattung über Porsche. Das ist ein extrem kompliziertes Finanzierungsproblem, das ein Laie nicht versteht. Wenn ich aber eine Figur habe wie Wiedekind, von der jeder weiß, wie viel er verdienen kann, dann ist es konkret. Dann ist eine solche Sache aufmersamkeitserregend. Umgekehrt bei VW fehlt das Gesicht. Generell sind solche Attacken erfolgreich, wenn sie sich gegen klar erkennbare Individuen richten.

STANDARD: Die Komplikation macht Angst. Die Vereinfachung bringt aber auch keine Lösung.

Kepplinger: Aber das Feindbild ermöglicht es, die eigenen Emotionen auf ein Ziel zu lenken. Die Bedrohung durch die Finanzgrippe erweckt ein Gefühl von Bedrohung, wogegen ich mich wehren möchte. In dem Moment, wo ich einen Feind erkenne, kann ich mich wehren. Das ist eine ganz atavistische Abwehrreaktion: Wenn ich den Feind im Nebel nicht kenne, bin ich verloren. Sobald im Nebel einer auftaucht, gegen den ich mich wehren kann, dann bin ich beruhigt. Selbst wenn das eine Illusion ist.

STANDARD: Neben dem Schaffen von Feindbildern: Wie gehen Medien mit Bedrohungen um?

Kepplinger: In der Regel wissen die Journalisten nicht, wie bedrohlich eine Gefahr wirklich ist. Man weiß letztlich nicht, wie bedrohlich BSE ist, Schweinegrippe, Klimawandel, was immer. Was passiert in Situationen, wenn man etwas nicht weiß? Die Leute beobachten sich gegenseitig, wie sie auf diese Bedrohung reagieren. Wenn ich sehe, Herr Meier reagiert voller Schrecken, und auch Herr Müller reagiert voller Schrecken. Dann fühle ich mich in meinem Schrecken bestätigt. Der Schrecken hat einen realen Anlass.

In Bedrohungssituationen mit unzureichenden Informationen beobachten alle sich gegenseitig. Die Reaktionen, die sie wahrnehmen führen zur Bestätigung ihrer eigenen Interpretation der Situation. Wenn alle Schrecken empfinden, muss mein Schrecken berechtigt sein, das heißt, hier muss eine reale Gefahr sein. Mit der Konsequenz nach wenigen Tagen in den Medien sind alle Journalisten überzeugt: Das ist eine echte Gefahr. Derjenige, der sich auf dem Höhepunkt einer solchen Krise hinstellen und sagen würde: Kinder regt euch doch nicht so auf. Das ist doch nur eine ganz kleine Angelegenheit. Ihn würde man innerhalb von Minuten als Zyniker identifizieren. Wie kann jemand derartig kaltblütig argumentieren, würde ihm entgegenschallen. Jeder, der in der Situation versucht, die Dinge anders zu artikulieren, geht ein hohes Risiko als Menschenverächter gebrandmarkt zu werden ein.

STANDARD: Eine interessante Wende gibt es bei der Atomenergie. Noch vor wenigen Jahren war Atomenergie der große Schrecken. Inzwischen wird sie als Hoffnungsträger gehandelt. Welchen Anteil haben Medien daran?

Kepplinger: Ich denke, sie haben ihren Anteil. Bei der Antiatombewegung hatten Medien eine ganz entscheidende Rolle. Über die Gegenbewegung habe ich keine empirischen Daten, aber meine Beobachtung sagt mir das. Warum ist das so? Das hat zwei wesentliche Gründe. Einmal ist ein Generationswechsel im Gang, auch im Journalismus. Es gibt eine Journalistengeneration, die sind mit dem Protest gegen Atomkraftwerke aufgewachsen. Diese Generation der 60- bis 65-Jährigen tritt langsam ab, und es wächst eine Generation nach, die hat überhaupt keine Beziehung zu den prägenden Ereignissen. Tschernobyl ist für die schon graue Vergangenheit. Für deren Biographie ist das weitgehend irrelevant. Deren Leben wurde nicht geprägt von der Antiatombewegung.

Zweitens schneidet Kernenergie bei nüchterner rationaler Abwägung der Gefahren, die uns durch Energie generell drohen, nicht so schlecht ab. Möglicherweise ist Kernenergie insgesamt das geringere Übel als durch das Verbrennen fossiler Energien, was den Klimawandel beschleunigt. Es geht nicht darum, dass meinetwegen ein Gebiet wie Deutschland verstrahlt wird, sondern dass die ganze Welt untergeht. Diese eine Gefahr ist größer und überschattet die andere.

STANDARD: Die Atomangst der 80er-Jahre entstand aus einer Medieninszenierung?

Kepplinger: Wir haben eine Inhaltsanalyse über zweieinhalb Jahrzehnte gemacht und uns angesehen, wer für und gegen Kernenergie waren. Die Journalisten in den von uns untersuchten Medien waren in den 60er-Jahren eindeutig pro Kernenergie. Auch Politiker und andere Protagonisten, die in den Medien zu Wort kamen, waren für die Kernenergie. Mit Ende der 60er-Jahre beginnt eine absteigende Tendenz. Die Urteile wurden immer negativer, und die negativen Urteile der Journalisten laufen eindeutig den Urteilen der Politiker voraus.

Die Journalisten-Negativurteile sind weitaus früher als aus der Antiatombewegung und der Grünbewegung. Diese Antiatombewegung beginnt Ende der Sechzigerjahre, setzt sich zeitverzögert in der Politik fort und schlägt sich erst im dritten Zugriff in der Protestbewegung gegen Atomkraftwerke nieder.

STANDARD: Gab es einen Sündenfall für die Angst besetzte Berichterstattung?

Kepplinger: Es gab ein paar Anlassfälle, die zum Umdenken führten. Ich will nicht von „Sünde" sprechen, denn dieses Umdenken ist ja auch richtig und wichtig. Das Schlüsselereignis im deutschsprachigen Raum war der Contergan-Skandal. Er führte zu einem Umdenken in der Bewertung von Industrie und industriellen Produkten.

STANDARD: Wie bewerten Sie den 11. September?

Kepplinger: Für den europäischen Journalismus war der 11. September nicht so gravierend. Er hatte im Mittleren Osten immense Folgen im Sinne eines Sieges und war für amerikanische Journalisten prägend. Nach dem 11. September sind amerikanische Journalisten bereit, Einschränkungen ihrer Handlungsmöglichkeiten im nationalen Sicherheitsinteresse hinzunehmen, die sie früher nie akzeptiert hätten. Zwar Zähne knirschend, aber immerhin.

Wenn sich im deutschsprachigen Raum etwas geändert hat, dann in der Politik. Hier fällt die Bereitschaft auf, innere Sicherheit auf Kosten individueller Freiheiten groß zu schreiben.

STANDARD: Wie nehmen Medien diese Themen auf?

Kepplinger: Die deutschen Journalisten wehren sich relativ heftig dagegen. Wie ich finde, auch zu Recht. Die Politik in Deutschland hätte einschneidendere Maßnahmen unternommen, wenn ein Großteil der Journalisten nicht so sehr kritisch darüber berichten würden. Journalisten haben hier wirklich etwas bewirkt. Wenn ich an die Debatte über die Zulässigkeit des Abschusses gekarperter Flugzeuge. Hier hat das Verfassungsgericht auch unter dem Eindruck der Mediendebatte Grenzen gezogen.

STANDARD: Die Angst besetzte Natur hat dann auch ihren Sinn.

Kepplinger: Zweifellos. In vielen Fällen hat Medienkritik auch ihr Gutes. Bei Contergan bewirkten die Medienberichte viel Positives.

STANDARD: Das Unterhaltungsfernsehen stellt eine Art Entlastungsgerinne für Angstkommunikation dar. Braucht es die Bedrohungen der Alltagswelt, damit das Unterhaltungsfernsehen erfolgreich sein kann?

Kepplinger: Am Beispiel Fernsehunterhaltung lassen sich die Angstmechanismen gut illustrieren. Wir fühlen uns ganz wohlig bei einem großen Bedrohungsausmaß. Warum ist das so? Weil diese Bedrohung Emotionen auslöst. Emotionen erleben wir positiv, wenn sie nicht zu stark sind. Zu starke Liebe schlägt in grenzenlose Eifersucht um, zu starke Ablehnung führt zu wahllosem Hass. Wir brauchen Emotionen und mögen sie, solange sie ein moderates Maß nicht überschreiben, sowohl die negativen wie die positiven. Unsere Welt ist relativ emotionslos.

Das große Leid findet bei uns nicht mehr auf den Straßen statt, wo die Todkranken herumliegen und die Beinamputierten rumhumpeln. Unsere Umwelt ist clean gemacht. Es gibt keinen Anlass für große Emotionen. Kriegerische Bedrohungen sind auch nicht sichtbar. Je weniger äußerer Anlass für Emotionen ist, desto mehr suchen wir in der Kunst, in der Unterhaltung, in der Musik und in der Medienlandschaft.

Da ist ein Bedürfnis nach einem Kitzel, damit wir uns selbst wahrnehmen können. Den brauchen wir einfach. Wenn wir den nicht kriegen, fühlen wir uns trostlos, allein gelassen, niedergeschlagen. Diesen Kitzel bedienen unter anderem Medien und natürlich die Unterhaltungsindustrie. Deshalb gehen freiwillig in Filme, wo wir uns fürchten können.

STANDARD: Oder schauen uns freiwillig "Germany's Next Topmodel" an?

Kepplinger: Interessant war die aberwitzige Kritik von Roger Willemsen daran: Die von ihm kritisierte maskenhafte Kälte der Heidi Klum ist notwendig. Da können wir uns abreagieren. Wenn die nett wäre, dann wäre es ja gar nichts. Ihre Kälte macht es aus, darüber können wir uns empören.

STANDARD: Sind so gesehen Erfolg oder Misserfolge der Produkte der Unterhaltungsindustrie vorhersehbar?

Kepplinger: In Grenzen kann man das abschätzen. Man kann zumindest sagen, was wird keinen Erfolg haben. (Doris Priesching/DER STANDARD; Printausgabe, 29.7.2009/Langfassung)