"Dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker respektiert werden muss, ist schließlich eine Binsenwahrheit und gilt natürlich grundsätzlich auch für die österreichische Minderheit in Italien, also die Südtiroler."

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Der Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder hat die Idee des FPÖ-Nationalratspräsidenten Martin Graf, in Südtirol eine Volksabstimmung über eine Rückkehr zu Österreich durchzuführen, postwendend als "unrealistisch" bezeichnet. Im Interview mit derStandard.at erklärt der SVP-Politiker, was er damit meint.

derStandard.at: Fühlen Sie selbst sich eigentlich als Südtiroler, Tiroler, Italiener oder Österreicher?

Luis Durnwalder: Das hat mich auch der italienische Staatspräsident vor kurzem beim Essen gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich an erster Stelle als Angehöriger der österreichischen Minderheit fühle, die in Italien lebt. Ich fühle mich außerdem als Südtiroler und als Tiroler, der halt einen italienischen Pass hat.

derStandard.at: In einer Reaktion auf die Aussagen von Martin Graf sagten Sie, dass es "derzeit keine Mehrheit" in Südtirol für eine Vereinigung mit dem Norden gäbe. Woher wollen Sie das wissen? Und was bedeutet "derzeit"?

Luis Durnwalder: Wenn Sie heute oder morgen die Bevölkerung fragen, ob sie mit der derzeitigen Situation zufrieden ist oder ob sie für eine Verlegung der Grenzen ist, bin ich überzeugt, dass 70 Prozent sagen werden, es geht uns gut und es ist alles in Ordnung. Aus dem Bauch heraus würden die Leute keine Änderung befürworten. Wenn die Abstimmung allerdings etwa erst in einem halben Jahr wäre und die Parteien entsprechende Aufklärung betreiben würden, bin ich davon überzeugt, dass sich auch heute noch eine knappe Mehrheit für eine Angliederung an Nord- und Osttirol fände.

derStandard.at: Wie könnte diese "Aufklärung" aussehen?

Luis Durnwalder: Etwa, in dem man auf die lange gemeinsame Geschichte mit Nord- und Osttirol hinweist und vor allem darauf, dass in Rom immer wieder Regierungen gewechselt und nie sicher gesagt werden kann, dass die Abmachungen in Bezug auf Südtirol auch weiter respektiert werden. Aber derzeit bin ich davon überzeugt, dass die Leute damit zufrieden sind, wie es jetzt ist.

derStandard.at: Was sind die Gründe für die Zufriedenheit der Südtiroler?

Luis Durnwalder: Die Gründe liegen vor allem in der weit reichenden Autonomie, die viel größer ist als jene der österreichischen Bundesländer. Die müssen wir auch haben, weil wir als kleine österreichische Minderheit in Italien mehr Schutz brauchen als ein Bundesland in Österreich, wo das ganze Land die gleiche Kultur, Tradition und Geschichte hat. Wir haben heute außerdem das höchste Bruttoinlandsprodukt von ganz Italien und liegen an letzter Stelle, was die Arbeitslosigkeit betrifft. Ich möchte nicht angeben damit, aber wenn man betrachtet, wie arm Südtirol früher war, hat uns die Autonomie hier schon sehr viel gebracht.

derStandard.at: Hat sich durch die lange Trennung vom Rest Tirols Ihrer Meinung nach eine spezifisch Südtiroler Identität entwickelt?

Luis Durnwalder: Es ist natürlich so, dass sich neunzig Jahre Trennung etwa auf die Sprache und die Lebensform der Südtiroler ausgewirkt haben. Trotzdem ist die Zusammengehörigkeit mit Nord- und Südtirol heute stärker ausgeprägt als in den Jahrzehnten zuvor, die Grenze praktisch nicht mehr spürbar.

derStandard.at: Was sagen eigentlich Ihre Politikerkollegen in Italien dazu, dass Ihr Land nach dem Willen des österreichischen Nationalratspräsidenten dem italienischen Staatsgebiet entrissen werden soll?

Luis Durnwalder: Das wird in Rom nicht ernst genommen, Herr Graf wird da in ein gewisses Lager eingestuft. Rom hat deshalb auch keine Angst, dass Österreich demnächst Italien den Krieg erklären könnte. Die Aussagen werden eher als ungeschickte Äußerung eingestuft und Graf hat sie ja im Nachhinein ein wenig relativiert. Dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker respektiert werden muss, ist schließlich eine Binsenwahrheit und gilt natürlich grundsätzlich auch für die österreichische Minderheit in Italien, also die Südtiroler. Aber das Grundrecht ist die eine Sache, die Anwendung die andere.

derStandard.at: Wie meinen Sie das?

Luis Durnwalder: Wir könnten natürlich sagen, am nächsten Sonntag rufen wir das Selbstbestimmungsrecht aus. Selbst wenn wir eine Mehrheit dafür finden würden, wie sollten wir das denn in die Realität umsetzen? Österreich wäre vielleicht bereit uns zu nehmen, aber Italien würde uns nicht gehen lassen. Ich glaube nicht, dass man deshalb das österreichische Bundesheer aufmarschieren lassen oder mit Gewalt in Südtirol Verhältnisse wie im Kosovo schaffen sollte. Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Man sollte in Europa Grenzen abbauen und nicht neue errichten. Deswegen sage ich: so lange Italien die Autonomie respektiert, haben wir kaum eine Möglichkeit, den Status Quo zu verändern.

derStandard.at: Und wenn nicht?

Luis Durnwalder: Wenn Italien das Pariser Abkommen zwischen Gruber und de Gasperi (es sicherte 1946 den deutschsprachigen Bewohnern Südtirols und des Trentino Gleichberechtigung gegenüber den Italienischsprachigen zu und gilt als Basis für die spätere Autonomie, Anm.) und die Autonomie hingegen nicht mehr respektieren sollte, dann könnte Österreich auf Nichterfüllung des Vertrags klagen und das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler einfordern. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 27.7.2009)