Besser wedelt man die Piste mit guten Schuhen hinunter. Denn jetzt, im Hochsommer, schiebt sich ja auch jede Menge Geröll unter die Gummisohlen der Jogger, und die Liftbügel hängen reglos im späten Abendlicht herum. Wer Stockholm im Juli über den Umweg der verwaisten City-Skipiste angeht, hat ein strapaziertes Stück Natur vor sich. Oder einen steilen Flecken Urbanität – je nachdem, wie man es betrachten will. Ein wenig lädiert wirken die aufgerauten Hänge des Hammarbybacken, dafür bietet das Panorama ganz neue Ansichten der schwedischen Hauptstadt.
Wie ein überdimensionierter Iglu überragt weiter westlich der 16.000 Sitze fassende Globen, das größte kugelförmige Gebäude der Welt, die vorgelagerten Gartenhäuschen. Doch zugleich prägt auch skandinavische Urnatur die städtische Peripherie. Grobe Granitblöcke stecken da in der Erde und zeigen den angekuschelten Bushaltestellen die kalte, steinharte Schulter. Das frische, helle Grün der jungen Birken hat sich in sattere Nuancen geflüchtet – ganz anders als die grellen Farben der Graffiti, die die Geschichte vom Neuland am Rande der Stadt auf ihre Weise erzählen. Neuland ist Hammarby Sjöstad, das einstige Lagerhallenviertel am Fuße des Hammarbybacken, in jedem Fall.
Noch vor wenigen Jahren galt der alte Hafen im Südosten des Arbeiterbezirks Södermalm als zwielichtige Gegend, die man am Abend besser mied. Doch plötzlich ist alles anders. Eco-Chic ist angesagt. Das beweist auch der Blick auf den Glaswürfelbau des Glashuset Visitor Center. Besucher aus aller Welt geben sich hier die Klinke in die Hand – chinesische Städteplaner mit blauen Anzügen, deutsche Architekturstudenten, schottische Öko-Aktivisten. Sie alle lockt ein gemeinsames Interesse hierher, nämlich jenes an Europas größter Nachhaltigkeitscommunity.
Hammarby-Sjöstad gilt weltweit als Musterökosiedlung. Ein ganzes Stadtviertel zeigt hier konsequent, wie man sich grünes Bauen à la Stockholm vorzustellen hat: Schicke Solarleuchten, viel Glas, eine optimale Fahrradinfrastruktur samt versperrbarer Drahteselgaragen finden sich da. Dazu minutiös geregelte Bauauflagen, die auch Mindestflächen für Balkone und Außenterrassen vorschreiben. Öko-korrekt taucht die Bürokratie des einstigen Sozialstaates auf – und garantiert Nischen für Brutvögel und Wasserratten. Gleich vor der Haustür verläuft die neue Uferpromenade, elegante Brücken führen zu kleinen Inseln und verborgenen Badeplattformen. Gut versteckt sind aber auch die technischen Details, die die Gäste mit Interesse studieren: Das unterirdische Röhrensystem für stationäre Müllcontainer etwa, das Abfälle zur zentralen Sammelstelle saugt und den Anrainern lästige Müllwagen erspart.
Energetische Untertanen
Dank solcher Innovationen sollen in Hammarby Emissionen auf die Hälfte reduziert werden – gemessen an vergleichbaren Bauten aus den 1990er-Jahren. Als hier vor Jahren Festoxidbrennstoffzellen installiert wurden, trabte der schwedische König persönlich an, um das erste nationale Exemplar der zukunftsweisenden Energietechnologie zu begutachten: Carl Gustav staunte dabei über einen grünen Metallblock, der die Fäkalien seiner Untertanen in elektrische Energie und Wärme verwandeln konnte. Für die Bewohner der Gegend war die mit Biogas gespeiste Stromquelle bloß ein weiterer logischer Schritt, fuhren Hammarbys Autofahrer doch schon seit längerem auf jenes Biogas ab, das den Tankstellen über kompostierte Haushaltsabfälle zugeführt wird.
All das beweist: Natur ist eine prächtige Triebfeder für blühende Urbanität – und beschränkt sich im Falle der schwedischen Hauptstadt keineswegs auf Prestigeobjekte. Denn das offizielle Stockholm, das 2010 als erste Stadt mit dem EU-Label "European Green Capital Award" ausgezeichnet wird, hat seine Öko-Hausaufgaben gemacht: Die CO2-Emissionen wurden seit den 1990er-Jahren um ein Viertel gesenkt, und schon stehen neue Stadtteile für noch ehrgeizigere Ziele ein: Bauvorhaben am Stockholm Royal Seaport wollen ab 2030 ohne fossile Brennstoffe auskommen – ganz Stockholm will bis Mitte des Jahrhunderts nachziehen.
Das Zauberwort dafür lautet Konsequenz. Sie steht und fällt mit dem Engagement von Menschen, die Gewohnheiten wie Badeausflüge in die vorgelagerten Schärengärten und Picknicks an städtischen Ufern in den Dienst einer Stockholmer Naturtradition stellen.
Leute wie Chefkoch Gustav Otterberg, der auf dem Weg in die Arbeit frische Wiesenkräuter und Beeren für seine Haubenmenüs einsammelt, finden sich nicht in jeder Stadt. Im Leijontornet-Restaurant im Herzen der Altstadt Gamla Stan schon. Beliebig ließen sich solche Mosaikstückchen zur aktuellen Öko-Offensive zusammensetzen: Lokale Grün-Couture, Bio-Friseure und naturnahes nordisches Design stehen dafür Pate.
Stockholms prächtiges City-Puzzle aus Wasser und bebauten Granitinseln beschert aber selbst flüchtigen Besuchern eine überraschend stadtnahe Dosis nordischer Natur: etwa bei einem Spaziergang durch die Wäldchen des Königlichen Parks Djurgarden, Herzstück des ersten Stadt-Nationalparks der Welt; oder auf Wasserwegen in Trinkqualität, auf denen Touristen im Mietkajak schippern, beim Lachsfischen gleich hinter der Bushaltestelle oder einfach nur beim Baden auf der einstigen Zuchthausinsel Langholmen. Und ein grüner Geheimtipp für die ultimative Rast ist auch das unescogelistete Landschaftskunststück, das Architekt Gunnar Asplund beigesteuert hat: Der Waldfriedhof Skogskyrkogarden haucht der Natur ein wenig urbane Seele ein. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Printausgabe/4./5.7.2009)