Ungarn hat in Anwesenheit von Gästen aus mehr als 30 Ländern, einschließlich rund zwanzig Staats- und Regierungschefs und Parlamentspräsidenten, den zwanzigsten Jahrestag des Falles des Eisernen Vorhanges, das Zerschneiden des Stacheldrahtes an der österreichisch-ungarischen Grenze durch die damaligen Außenminister Gyula Horn und Alois Mock gefeiert. Der deutsche Bundespräsident Köhler dankte für die unvergessliche Hilfe für die DDR-Flüchtlinge und in ähnlichem Ton lobte US-Präsident Obama in einer von einem Kongressabgeordneten verlesenen Botschaft diesen "historischen Wendepunkt" . Trotzdem spiegelten die Begleitumstände der Feier, gerade auch wegen der Anwesenheit der höchsten staatlichen Würdenträger - des Staatspräsidenten, der Parlamentspräsidentin und des Ministerpräsidenten -, die tiefe Spaltung des Landes wider.

Selbst bei einem so symbolträchtigen Anlass haben die Spitzenvertreter der größten Oppositionspartei Fidesz (abgesehen von einem einzigen Abgeordneten) und auch der katholischen Kirche (trotz Anwesenheit des päpstlichen Nuntius) die Einladung nicht angenommen. Von den ausländischen Gästen spielte nur der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer wohl nicht zufällig auf das vergiftete politische Klima an, indem er die "politische Fähigkeit" lobte, den Gegner nicht als Feind zu betrachten.

Es gehört in der Tat zu den verblüffenden Paradoxen der ungarischen Geschichte, dass die Magyaren nach ihren größten "Siegen in den Niederlagen" ihren internationalen Ruf oft verspielt hatten. Der Historiker und spätere Außenminister nach der Wende, Géza Jeszenszky, beschrieb in einem 1986 veröffentlichten Buch, Verlorenes Prestige, die Wandlung des einst ruhmreichen Ungarnbildes in England bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, vor allem infolge des zügellosen Nationalismus der herrschenden Elite.

Heute geht es trotz der Anerkennung für die mutigen Handlungen der reformkommunistischen Budapester Regierung unter Miklós Németh 1989 auch um eine beispiellose Welle kritischer Reportagen der Weltpresse über die Lage in Ungarn. Die Aufmärsche der vor zwei Jahren gegründeten paramilitärischen Ungarischen Garde in an faschistische Zeiten erinnernden Fantasieuniformen, die Serie von tödlichen Anschlägen gegen die Roma, die rassistische und antisemitische Stimmungsmache in einem Teil der Medien und vor allem der sensationelle Stimmenzuwachs für die rechtsradikale, fremden- und judenfeindliche Partei "Jobbik" , die fast 15 Prozent der Stimmen bei der Europawahl und damit drei Mandate errungen hat, lösen berechtigte Sorgen nicht nur bei den (geschätzten) 600.000 Roma und bei den etwa 80.000 Juden, sondern auch in breiten Kreisen der Intellektuellen und Künstler aus. Die (noch regierenden) Sozialisten und fast gänzlich verschwundenen Liberalen sind in unappetitliche Machtkämpfe (vor ihrem Untergang bei den kommenden Wahlen) verstrickt. Der siegessichere Fidesz-Führer Viktor Orbán schweigt und will den rechten Rand nicht an die radikale Konkurrenz verlieren. Es wäre aber höchste Zeit, den Eisernen Vorrang in den Köpfen und zwischen den politischen Gruppen endlich auch in Ungarn selbst niederzureißen. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 2.7.2009)