Veronika Barnaš

© Christoph Sebastian

Julya Rabinowich

© Andrew Rhinky

"Menschenrechte muss man sich erst verdienen." Dieses Posting war der "Urknall" für die Entstehung der Fluchtarien, wie Schriftstellerin Julya Rabinowich erzählt. Das Theaterstück über das Schicksal von drei Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Österreich flüchten mussten, wird in der nächsten Saison des Volkstheaters wieder aufgenommen. derStandard.at hat sie und Veronika Barnaš (Konzept, Raum und szenische Gestaltung) getroffen und mit ihnen über Flucht, Grenzen und außerirdische Lebensformen in den derStandard.at-Foren gesprochen.

derStandard.at: Was war der Anlass, die Fluchtarien zu verfassen?

Julya Rabinowich: Die Grenzen haben sich verschoben und sehr viel Unterschwelliges offensichtlich werden lassen. Und die anderen Grenzen haben sich geschlossen.

derStandard.at: Wieso haben Sie die Postings von derStandard.at-UserInnen im O-Ton übernommen?

Rabinowich: Mir ist aufgefallen, dass sich eine bestimmte Art von Postern hervorgetan und entwickelt hat. Das sind Personen, die in Integrationsfragen besonders brutal vorgehen, aber auch bei Frauenthemen sehr untergriffig werden. Ich hatte den Eindruck, dass ich das nicht länger unkommentiert stehen lassen wollte. Ich hatte keine Lust mitanzusehen, dass solche Bemerkungen kommentarlos stehen bleiben können. Der andere Beweggrund war: Wenn diese Kommentare schon da sind, dann will ich sie auch verwenden können.

Ich habe vor allem darum die Originale verwendet, weil ich sonst Sorge hätte, dass man mir diese Ausdrucksformen nicht abnimmt und der Text weniger glaubwürdig geworden wäre. Dass Menschen im Schutze der Anonymität oder vielleicht sogar am Stammtisch so etwas tatsächlich von sich geben, ist ja auch unglaublich.

derStandard.at: Gab es ein bestimmtes Posting, das letztendlich den Ausschlag gegeben hat, die Arbeit an den Fluchtarien aufzunehmen?

Rabinowich: Die fixe Idee, dass ich das unbedingt machen möchte, war folgendes Posting: "Menschenrechte muss man sich erst verdienen."

Es existiert oft diese falsche Annahme, dass alle unbedingt nach Österreich wollen und lange planen, wie sie durch Betrug hierher gelangen können. Ich stelle nicht in Abrede, dass es solche Menschen gibt, aber dem gegenüber steht die Mehrzahl derer, die das nicht wollten, nicht geplant haben, Heimweh haben und nicht zurück können.

derStandard.at: Die Frage ist, wie man mit Foren allgemein umgeht. Abdrehen ist keine Lösung, inwieweit kann man die Diskussion innerhalb des Forums moderieren?

Rabinowich: Es war mir wichtig, dass ich die Kommentare der UserInnen zurück spiegle. Ich habe danach das Forum beobachtet und würde ja eigentlich gerne noch aus der Diskussion, die sich entwickelt hat, etwas anhängen. Nachdem die Kritik zu den Fluchtarien online gestellt wurde, ist es im Forum ja rund gegangen. Bei Beiträgen im Ressort Bühne gibt es normalerweise maximal zwanzig oder dreißig Postings. Wir waren dann relativ schnell bei hundert.

Ich habe mir gedacht, ich stelle mich der Kritik und Anmerkungen können gleich bei mir deponiert werden. Der Effekt war, dass daraufhin der Postingverkehr zum Erliegen kam. Ein paar sind dran geblieben und haben auch weiterhin ihre Meinung vertreten, aber in einer gemäßigten Form.

Veronika Barnaš: Das entspricht ja auch dem Konzept von Julyas Stück - konkrete Figuren, Schicksale herauszunehmen. In dem Fall hat sich Julya selbst gestellt und die Angriffe wurden weniger, als wenn sie sich gegen eine "unsichtbare" Allgemeinheit richten.

Rabinowich: Ich glaube zum Beispiel auch, dass mehrfache Accounts ein Problem sein können. Da gibt es zwei bis drei Poster, die vermutlich ihren ganzen Tag vor dem Computer verbringen. Wenn man das Forum über einen längeren Zeitraum beobachtet weiß man auch, um wen es sich handelt: Es gibt da die üblichen Verdächtigen.

derStandard.at: Vor der EU-Wahl habt ihr gemeint, dass gerade aus Integrationsthemen viel politisches Kleingeld geschlagen wird. Ist die Rechnung wirklich aufgegangen?

Barnaš: Ich glaube, dass die ÖVP einen starken Rechtsruck erlebt hat, auch durch oder für diesen Wahlkampf. Das empfinde ich als sehr gefährlich, weil es unterschwelliger passiert, als bei anderen bekannten Parteien. Und die ÖVP hat fürchte ich noch immer sehr viele WählerInnen, die trotzdem noch genug andere Gründe sehen, sie zu wählen.

Rabinowich: Ich glaube, dass auf einem auf Ängsten aufgebauten Wahlkampf relativ viel abgesahnt worden ist.

Barnaš: Auf Ängste, die in Wirklichkeit keine konkreten Themen waren, zumindest bei dieser Wahl.

derStandard.at: In einem Posting, dass Sie in den Fluchtarien verwendet haben, heißt es zum Beispiel: "Ein Großteil jener, die bei uns um Zuflucht ansuchen, sind keine Unschuldslämmer sondern schlicht kaltblütige Kriminelle vor deren Gegenwart uns der Staat eigentlich schützen sollte."

Rabinowich: Ein Poster hat auf diese Ängste sehr schön reagiert und geschrieben, dass Ängste durchaus etwas sind, das man ernst nehmen muss. Denn nur wer die Ängste hat, weiß auch um ihre Realität. Ein anderer Poster hat darauf geantwortet, dass er das einem Arachnophobiker erzählen soll. Denn dessen Ängste haben in Österreich zum Beispiel überhaupt keine reale Unterfütterung, aber wirken gewaltig.

Berechtigte Sorgen gibt es, wie zum Beispiel mangelnde Durchmischung an manchen Schulen. Eine Problematik für deren rasche Lösung die Politik zuständig wäre. Diese Sorgen sind aber keineswegs mit rassistischen Vorverurteilungen und pauschaler Beschuldigung derer zu verwechseln, die an keiner konstruktiven Lösung außer an Aufwiegelung und dem Auseinanderdividieren von Bevölkerungsschichten interessiert sind.

Barnaš: Es geht auch nicht darum, die Ängste ernst zu nehmen, sondern sie weiter zu schüren.

Rabinowich: Ich hatte manchmal, auch im Forum, das Gefühl, dass ich, wie das Raumschiff Enterprise, in unendliche Weiten unterwegs bin. Es wurden vor allem ungeahnte Tiefen in der Kommunikation erreicht. Und mich hat eben interessiert, was passiert, wenn ich all diese Prachtstücke sammle und zurück spiegle.

derStandard.at: Die Postings sind ja eigentlich nur ein kleiner Teil des Textes. Wie haben Sie die Figuren erarbeitet? Haben Sie dazu Biographien verwoben, auf die Sie im Laufe ihrer Arbeit als Dolmetscherin in der Therapie mit Flüchtlingen gestoßen sind?

Rabinowich: Die Tschetschenin ist ein Puzzle aus verschiedenen Schicksalen, die ich kennen gelernt habe. Aussprüche, die ich gehört habe, waren hilfreich dabei, ihr Bild zusammen zu setzen. Bei der Nigerianerin habe ich niemanden persönlich gekannt, aber zwei Frauen vom LEFÖ interviewt, die mit aussteigenden Prostituierten gearbeitet haben. Auch das Buch "Die Ware Frau" von Corinna Milborn und Mary Kreutzer war sehr hilfreich. Die Chilenin ist aufgrund von einem Interview und dem Buch "Zerstörte Hoffnungen, gerettetes Leben" von Sigrun und Herbert Berger (Verlag Mandelbaum) entstanden. Ich würde für meine Texte niemals eine reale Person vor den aufmerksamen Blick der Öffentlichkeit zerren.

derStandard.at: Und sind Sie mit der Resonanz der UserInnen bislang zufrieden?

Rabinowich: Es ist schön zu sehen, dass "Passen Sie auf, sonst werden Sie bald aufgeführt" teilweise schon fast als Drohung verwendet wird. (lacht)

derStandard.at: Sind weitere Zusammenarbeiten geplant?

Barnaš: Ja, wir haben offiziell ein weiteres Angebot bekommen und die "Fluchtarien" werden im November wieder aufgenommen.

Rabinowich: Ich schreibe gerade meinen zweiten Roman. Im Herbst beginnt mein Stipendiat. Da wird das nächste Stück erarbeitet, der Arbeitstitel lautet "Hungerfülle". (Julia Schilly, derStandard.at, 06.07.2009)