Wo bald Appartements stehen werden: der Alltag in der staatlichen Munitionsfabrik in Chengdu und seine "Bewohner", wie sie der chinesische Regisseur Jia Zhangke in "24 City" porträtiert hat.

Foto: Stadtkino

Dominik Kamalzadeh sprach mit ihm über den rasanten Wandel in China und die Funktion von Erinnerung.

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Wien - Eine staatliche Munitionsfabrik in Chengdu wird Schritt für Schritt zu einem modernen Appartementkomplex umadaptiert. Jia Zhangke, der bedeutendste Autorenfilmemacher Chinas, verhandelt in 24 City ein Stück Zeitgeschichte. In teils dokumentarischen, teils inszenierten Szenen erzählen Menschen Episoden aus ihrem Arbeitsleben in der Fabrik. Nach und nach verdeutlicht der Film, mit welcher schicksalhaften Macht sich der Staatsapparat in China in die Biografien seiner Bürger eingeschrieben hat - und wie die daraus hervorgegangene Kultur in der Eile der Veränderungen nun zu verschwinden droht. Ein eindringliches Bild für den Wandel Chinas zur Marktwirtschaft.

Standard: In "24 City" treten ehemalige Mitarbeiter einer Fabrik auf, um aus ihrem Leben zu berichten. Manche davon sind real, andere fiktional. Warum haben Sie sich für diese Form entschieden?

Jia: Am Anfang schwebte mir ein Dokumentarfilm vor, der die Erinnerungen der Arbeiter festhalten sollte. Während der Interviews erkannte ich, dass Fiktion durchaus ein Teil des Films werden könnte. Wenn sich Leute der Vergangenheit besinnen, spielt die Vorstellungskraft bereits eine große Rolle - Realität und Einbildung vermischen sich. Ich denke, darum geht es auch bei Geschichte, sie ist selbst ein Hybrid. Eine konkrete Einbildung ist oft sogar plastischer.

Standard: Die Charaktere werden im Lauf des Films immer jünger. Welchen gesellschaftlichen Prozess wollten Sie damit zeigen?

Jia: Die Fabrik veranschaulicht Chinas Entwicklung: Sie wurde im Jahr 1958 gebaut, zu dieser Zeit begann man in China, um die richtige Linie zu ringen. Ende der 1970er-Jahre begann der schleichende Verfall des Kommunismus, und nun haben wir eine chinesische Variante der Marktwirtschaft. In der Vergangenheit betonte man die kollektive Gemeinschaft. Restriktionen wurden durchgesetzt, die das Individuum beschädigten. Noch heute sucht jeder nach Freiheit - die letzte Person des Films, die Zhao Tao spielt, repräsentiert die jüngste Generation, die sich endgültig von der Vergangenheit löst. Sie umarmt den Individualismus.

Standard: Viele Geschichten kommen indirekt auf den Wert der Familie zurück. Das scheint eine Grundkonstante zu sein, die nicht verlorengeht.

Jia: Ja, auch die junge Frau am Ende des Films versucht, ihre Eltern zu verstehen. Sie fragt sich, wofür sie arbeitet. Das ist für mich etwas sehr Wesentliches: Auch die jüngste Generation kann und darf die Vergangenheit nicht ignorieren. Es geht nicht um Nostalgie: Wir müssen jedoch das alte System anerkennen und verstehen, um uns überhaupt mit der Zukunft zu befassen. Die Verbindung leistet die Familie. Was die junge Frau am Ende sagt, stand nicht im Drehbuch: Dass sie genug Geld verdienen wolle, um den Eltern ein Haus zu bauen. So verstand ich erst den Schaden, den das alte System bei den Jungen verursacht hat. Sie suchen nach einer Art Kompensation mithilfe des Materialismus.

Standard: So wie Sie die Auseinandernahme der Fabrik filmen, meint man auch, Sie wollten das Bild einer verschwindenden Arbeiterklasse festhalten. Kino als Archiv?

Jia: Unbedingt, meine Filme waren immer Archive von Erinnerungen. Sie erzählen, was in China zu einem Zeitpunkt passiert, in dem sich das Land schnell wandelt. Es geht darum, Erinnerungen aufzubewahren. Wir haben viel aufgegeben und einen hohen Preis bezahlt für die jüngste Entwicklung.

Standard: Die Erinnerung kennt auch ein Maß an Melancholie - woher rührt das?

Jia: Mir geht es nicht so sehr um Geschichte, als eher um die Frage nach Schicksalen. Wie wirken sich historische Prozesse auf das Leben der Menschen aus? In China war die Bevölkerung im letzten Jahrhundert von politischen Veränderungen massiv betroffen. Die Melancholie resultiert wohl auch daher. Ich glaube, dass man mehr Respekt gegenüber den Einzelnen gewinnt, wenn man den einzelnen Daseinskampf der Geschichte gegenüberstellt. In China sagt man gerne, wir werden geboren, dann werden wir alt und krank, und dann sterben wir - doch das erklärt noch nicht alles.

Standard: Die Orte Ihrer Filme sind außergewöhnlich; in "Still Life" sieht man die immensen Auswirkungen des Baus des Drei-Schluchten-Damms, nun wird eine Fabrik zum Gefäß von Geschichte.

Jia: Der Damm repräsentierte für mich 2000 Jahre Geschichte, die plötzlich wortwörtlich untergeht. Das hat eine geradezu primitive Energie freigelegt. Mit der Fabrik, die zu einem Appartement-Komplex wird, wollte ich das System beschreiben, das zu dem Wandel geführt hat. Der Raum erzählte somit in beiden Fällen sehr viel. Der Fokus meiner Filme liegt zwar auf den Menschen. Doch die Orte sind essenziell - auch Dialoge drehe ich stets in Bezug zur Umgebung.

Standard: Eine fiktive Figur namens "Little Flower" wird von Joan Chen verkörpert - ein Verweis auf den gleichnamigen Film von Zheng Zhang. Eine Reverenz an eine andere Generation von Filmemachern?

Jia: Das ist eine Figur, die 1978 in der Fabrik zu arbeiten begann - zu einem Zeitpunkt, da sich China zu öffnen begann. Als ich über die Besetzung nachdachte, fiel mir Joan Chen ein, die für viele Chinesen diese Zeit verkörpert. So kam ich auch auf die Idee, mich auf den Film, Little Flower, zu beziehen. Ich wollte gleichsam Herz und Kopf einbeziehen. Mein Film soll auch eine Geschichte des Kinos vermitteln - in einem Teil herrscht vollkommene Stille, auch das ist ein Tribut ans Kino. 

(DER STANDARD/Printausgabe, 29.06.2009)