Das Wahlergebnis der ÖVP, soweit sind sich Meinungsforschung und die meisten politischen Beobachter einig, hat diese zu einem Gutteil der Auseinandersetzung zwischen ihren beiden Spitzenkandidaten Ernst Strasser und Othmar Karas und dessen Vorzugsstimmenwahlkampf zu verdanken. Was aus der Not eines geschmähten Karas geboren worden war, sollte uns im Nachhinein als wohlüberlegte Wahlkampftaktik verkauft werden. Sei's drum. Die Art und Weise, wie die Parteispitze mit Karas umgegangen war und ein gehöriges Maß an Antipathie nicht weniger potenzieller VP-Wähler gegenüber Strasser, vor allem aber die Möglichkeit, dem eignenen Unmut in der Wahlzelle Ausdruck zu verleihen und die vermeintliche Chance, die Entscheidung der Parteispitze durch Umreihung zu korrigieren, hat die Stimmbürger mobilisiert. - Mit dem Effekt, dass die ÖVP einen Großteil ihrer Wählerschaft aus 2004 halten und sogar ehemalige Nichtwähler/innen (wieder) für sich gewinnen konnte.

Eine solche Entwicklung hätte man vielleicht auch den Grünen gewünscht, doch die haben sich in der Auseinandersetzung um die EU-Kandidatur dagegen entschieden, ihre Wähler/innen bestimmen zu lassen und so einen ähnlichen Effekt möglicherweise verhindert.

Die Ausnahme ...

Die Causa Voggenhuber wird mittlerweile von Glawischnig undCo als "vergossene Milch" abgetan, um die zu jammern es sich nicht lohne. Worüber nachzudenken allerdings durchaus lohnen könnte, ist das österreichische Wahlsystem, und hier im Speziellen das als sehr schwach zu bezeichnende Persönlichkeitselement. 1992 wurde mit dem deklarierten Ziel der Verbesserung des Kontakts zwischen Wählern und Gewählten das heute bei Nationalratswahlen und im Prinzip auch bei Europawahlen gültige System der Vorzugsstimmen eingeführt. Seine Auswirkungen blieben allerdings bescheiden. Die Möglichkeit der Vorzugsstimme wird vergleichsweise selten genutzt, und die Zahl der tatsächlichen Umreihungen durch die Wähler/innen ist verschwindend gering.

Gerade deshalb ist auch die vergangene Europawahl aus 2004 noch so gut in Erinnerung, als der damalige Spitzenkandidat der FPÖ, Hans Kronberger, durch den Listendritten, Andreas Mölzer, vom einzigen von den Freiheitlichen gewonnenen Mandat verdrängt wurde. Von solchen Ausnahmen abgesehen, ist die Auseinandersetzung um Vorzugsstimmen allerdings zum parteiinternen Beauty-Contest verkommen, der wenige bis keine realen Auswirkungen auf das Wahlergebnis hat.

Aber warum eigentlich nicht die Ausnahme der erfolgreichen Beeinflussung der Kandidatenauswahl zur demokratischen Regel machen? Denn offensichtlich und verständlicherweise wollen die Wähler/innen nicht einfach nur eine Partei wählen, sondern auch über das politische Personal effektiv mit entscheiden. Das derzeitige System der lose gebundenen Listenwahl bietet dazu allerdings nur unzureichend Möglichkeit. Also weg mit der hierarchisierten Liste, die den Wähler/innen von der Partei vorgelegt wird, und nur mit größter Anstrengung abgeändert werden kann. Und hin zu einem Verfahren, bei dem die Wähler/innen selbst durch die Vergabe von persönlichen (Vorzugs-)Stimmen die Reihung festlegen und darüber entscheiden, wer konkret den Einzug ins Parlament schafft.

Fünf von einer Partei in einem Wahlkreis erworbene Mandate, ermittelt durch die Parteistimmen nach dem Proportionalitätsprinzip (wie bisher), beispielsweise bedeuten den Einzug der fünf stimmenstärksten Kandidaten dieser Partei, ermittelt durch die Vorzugsstimmen. Eine solche Änderung im Wahlsystem würde das Gewicht bei der Kandidatenauswahl deutlich in Richtung Wähler verschieben, ohne dass die Parteien plötzlich ihren Einfluss auf die Rekrutierung gänzlich verlieren würden.

Neben diesem Mehr an Demokratie schafft so ein System aber auch mehr Unabhängigkeit der einzelnen Abgeordneten gegenüber ihrer Partei, es entspricht zugleich der ständig erhobenen, aber ansonsten kaum realisierten Forderung nach mehr Bürgernähe. Und es würde mit Sicherheit den parteiinternen Wettbewerb verschärfen: Kein Kandidat und keine Kandidatin kann sich dann auf einem vorderen Listenplatz "ausruhen" , da schon eine einzige Stimme mehr für den Parteifreund den eigenen Einzug ins Parlament gefährden könnte.

... zur Regel machen

Das macht einen Wahlgang natürlich auch deutlich spannender, weil das Ergebnis weniger vorhersehbar ist als beim derzeitigen Verfahren, und es erhöht damit die Mobilisierungschancen bei der Wählerschaft. Nicht zu vergessen ist aber schlussendlich noch ein weiterer, ganz entscheidender Effekt einer solchen Neuregelung: Jede einzelne Vorzugsstimme zählt und wird auch wirksam. Während bei der derzeitigen Regelung Vorzugsstimmen unter einer zu erreichenden Schwelle ohne Auswirkung bleiben und gleichsam verfallen, trägt hier jede abgegebene Stimme für eine Person zur Reihung der zukünftigen Abgeordneten bei und entscheidet über Erfolg oder Misserfolg.

Dabei braucht weder von der Verhältniswahl noch (bei der Nationalratswahl) von der gestuften Mandatsvergabe auf drei Ebenen abgegangen werden. Und klarerweise ist es weiterhin die Partei, die eine Vorauswahl trifft und nach eigenem Ermessen und parteiinternen Regelungen (je nach Partei mehr oder weniger demokratisch durch die Parteiführung oder die Parteibasis) ihre Kandidaten nominiert. Die Möglichkeit der Reihung wird ihr allerdings genommen und damit die bisher nahezu absolute Sicherheit, darüber zu entscheiden, wer es tatsächlich ins Parlament schafft, und wer nicht. (Gerd Valchars, DER STANDARD-Printausgabe, 13./14.6.2009)