Moskau ist eine harte Stadt. Das spürt man schon am Flughafen. Alles rennt, alles eilt, alles ist hektische, humorlose Geschwindigkeit. Die einen schleppen riesige verschnürte Pakete, die anderen schieben strassverzierte Designerkoffer. Zitternde Schoßhündchen überdekorierter Damen irren glubschäugig durch das Getrampel und sehen vor lauter Beinen und Gepäck ihre Frauchen nicht mehr. Fahrt nicht mit dem Taxi in die Innenstadt, haben alle gesagt, die sich hier auskennen. Der Moskauer Verkehr - ein Wahnsinn!
Wir finden aus dem Gewühl und in den Bahnhof, steigen in einen Zug, der zu 98 Prozent aus rohem Eisen besteht. Abfahrt. Wir rattern durch Birkenwälder. Wo ist Moskau? Weit vor uns. Der Domodedovo-Flughafen liegt mitten im Wald. Bis die ersten Plattenbauten am Horizont auftauchen, vergeht eine halbe Stunde. Stadt und Land mischen sich nur langsam hier. Alles ist weit und riesig unter dem großen russischen Himmel.
Wir sind hierhergekommen, um die neue und alte Architektur Moskaus quasi professionell in einem Schnelldurchlauf zu durchmessen. Die BBC macht eine Radiosendung, straffes Programm. Der angereiste Städtebauprofessor soll die neuesten architektonischen Entwicklungen kommentieren. Und ich? Ich will, was ich seit vielen, vielen Jahren schon will: in Moskau U-Bahn fahren.
Die Moskauer Metro, 1935 eröffnet, gehört zu den tiefsten U-Bahn-Systemen der Welt und ist mit rund 2,5 Milliarden Fahrgästen jährlich auch eine der am stärksten in Anspruch genommenen U-Bahnen der Welt. (Wikipedia)
Abgesehen davon: Die Moskauer Metro ist Legende. Eine auf 293 Tunnelkilometer geknüpfte Perlenkette tief eingegrabener Prachtbauten. Die U-Bahn war eines der Lieblingsprojekte Stalins - Paläste für das Volk, eine Metro aus Marmor und Kristall, glanzvoll wie die Tanzsäle des einstigen Zarenreichs. Und die liegen heute immer noch authentisch und konserviert in der Moskauer Muttererde.
Aber erst einmal ankommen in der größten Stadt Europas. Rund 10,5 Millionen Menschen leben hier, und jeder Einzelne von ihnen hat, wenn er sich das leisten kann, ein Auto. Ein möglichst großes Auto. Ein Auto ist Identität in der postkommunistischen Zeit.
Honiggelbe Handarbeit
Wir stauen durch die Menschenmassen aus dem Bahnhofsgebäude, stehen auf einem großen Platz und betrachten erst den ungeheuren Verkehrsstau rund um uns, dann das Haus, das uns gerade ausgespuckt hat. Der Bahnhof schaut mit seinen honiggelben Zuckertürmchen und den braunen Zinnentüpfeln aus, als sei er vor mindestens 150 Jahren in Handarbeit errichtet worden. Nichts da, alles nur Fassade, meint Sergej abfällig. Unser melancholischer Tour-Guide hat uns hier aufgegabelt, er sieht aus - eine Platitude, aber wahr - wie Rasputin in ganz jungen Jahren. Das meiste am Bahnhof sei neu und auf alt getrimmt - eine ablehnenswerte Anbiederung an die Vergangenheit, die Moskau neuerdings heimsuche wie eine architektonische Seuche.
In den nächsten Tagen werden die verkehrsgeplagten Moskauer die Metro betreten. Sie werden die Vorhallen erblicken, die glänzenden Foyers mit den gläsernen Kassen, die breiten, großartigen, mit formstrengen Lustern erleuchteten Korridore und die so unerwartet riesigen, leuchtenden Säle der unterirdischen Bahnsteige. ("Prawda" , 1935)
Der Stau ist zäh wie Bitumen. Bei einer durchschnittlichen Fahrtgeschwindigkeit von zwei bis drei Kilometern pro Stunde haben wir viel Zeit, Ausschnitte dieses gigantischen Stadtgebildes zu betrachten. Hier schaut alles so aus, sagt der Städtebauprofessor, als hätten Architekten und Straßenbauer den Häusern und Boulevards Anabolikaspritzen verpasst und Architektursteroide in den Beton gemischt.
Aber was ist alt, was neu hier? Man kann den Unterschied tatsächlich nicht mehr ausmachen. Gut, Stalins Hochhäuser, die "Schwestern" , die kennt man, die sind also echt. Aber im Anschluss sollen wir uns zu einem Beispiel zeitgenössisch gefälschter Historienarchitektur begeben: Bei der Christi-Erlöser-Kathedrale wartet schon die Dame mit dem Mikro.
"Komm" , sagt der Städtebauprofessor, "wir flüchten." Keine Lust mehr auf noch ein paar Stunden im Auto. Er packt mich am Ärmel, wir tauchen durch ein halbkreisförmiges Portal in eine cremegelbe Dämmerwelt. Der Menschenverkehr ist so dicht wie der Straßenverkehr. Einmal falsch abgebogen - und ein Sog von Körpern reißt dich zehn, zwanzig Meter mit.
Ein langer, breiter Gang mündet in eine ungeheure Rolltreppenanlage, sie scheint Richtung Erdmittelpunkt zu führen. Wir stehen still und überlassen alle Bewegung der verborgenen Maschinerie darunter, die uns lautlos abwärts trägt. Milchglaskugelluster ziehen an uns vorbei, feine Mosaikfliesen und Metalleinfassungen. Wir haben keine Zeit, die von Kristalllustern erhellte Bahnsteighalle genauer anzuschauen. Der Zug ist da, die Menschenmasse spült uns hinein. Diesmal packt uns Sergej: "Schnell weg von der Tür!" Wir steigen an der übernächsten Station aus.
Wirklich im Mosaikhimmel
Dort betrete ich gewissermaßen die Fotografie, die ich vor vielen Jahren erstmals betrachtet habe - und die Wirklichkeit ist überwältigend. Eine enorm dimensionierte Flucht hoher Gewölbe spannt sich über dem mosaikverzierten Marmorboden. Gewölberippen und Stützen sind mit spiegelndem Stahl verkleidet. In den Gewölbescheiteln leuchten versenkte Mosaike, so fein gearbeitet wie Kronjuwelen. In einem hängt ein kleines blaues Mosaikflugzeug, festgefroren im Mosaikhimmel, wie ein harmloses Kinderkriegsspielzeug.
Die Station Majakowskaja thematisiert durch mehr als 30 Gewölbemosaike die Luftfahrt der Sowjetunion. Die mit fluoreszierenden Materialien versehenen und indirekt beleuchteten Mosaike sollen eine beeindruckende Raumwirkung erzeugen. Dieser U-Bahnhof erhielt in New York den Grand Prix für Architektur. (Wikipedia)
Bis zu 75.000 Leute hatten in den 1930er-Jahren gleichzeitig an der Metro gebaut. Ruhm und Ehre für den Kommunismus. Wir tauchen wieder auf. Die Christi-Erlöser-Kathedrale, sagt der Städtebauprofessor, schaut aus wie eine aufgeblasene Hochzeitstorte. Nichts daran ist echt, auch wenn sie uralt wirkt. Die Fassadenplastiken werden ihrem Namen gerecht. Sergej sagt, die seien aus Kunststoff.
Noch einmal in die U-Bahn, noch ein kurzer Stopp in einer neobarocken, gelb-weißen Riesenhalle. Die Station Komsomolskaja umhüllt uns mit dem Raumvolumen eines Ballsaals. Doch keine Musik von Strawinski, sondern scheppernde Lautsprecheransagen. Keine Festroben, sondern Turnschuhe und Regenmäntel. Kein Sektglasklingen, sondern das Tuten der Türen, die sich unter Kristalllustern öffnen und schließen und die Bahnsteige nur für flüchtige, kurze Momente leergefegt lassen.
"Komm" , sagt der Städtebauprofessor, der von den gefälschten Häuserfassaden oben auch schon die Schnauze voll hat. "Lass uns einfach weiterfahren durch diese umgekehrte Welt." Eine U-Bahn hat keine Fassaden, sie besteht nur aus Inhalt, und rundherum ist alles schwärzer als die Nacht. (Ute Woltron, DER STANDARD, 13. 06.2009)