Den Haag - 100 Milliarden Euro sind sehr viel Geld. Nur als Beispiel: Man könnte damit die Zahl der Polizisten in der EU um rund zwei Millionen erhöhen, wenn man den in Österreich angesetzten Maßstab von 50.000 Euro pro Beamten und Jahr anlegt. Diese 100 Milliarden Euro sind aber Geld, das fehlt: So hoch ist der Schaden, der jedes Jahr nach Schätzungen durch innergemeinschaftlichen Umsatzsteuerbetrug oder - im englischen Fachterminus - Missing Trader Intra Community Fraud (MTIC) verursacht wird.

"Diese Betrugsform betrifft jeden, zumindest jeden Steuerzahler in der EU", sagte Rafael Rondelez, Vize-Chef der Abteilung für Finanz- und Eigentumskriminalität der europäischen Polizeibehörde Europol. Die ökonomischen Auswirkungen seien dramatisch: Durch diese Form des Steuerbetrugs würden Wirtschaftsaktivitäten verzerrt, regelkonform arbeitende Unternehmen würden behindert. Der betrügende Mitbewerber kann seine Waren zu besseren Preisen anbieten. Wer sich an die Spielregeln hält, wird auf diese Weise im Extremfall in den Bankrott getrieben, so der Experte.

Das Prinzip ist denkbar einfach und macht sich zwei Besonderheiten des Mehrwert- oder Umsatzsteuerrechts in der EU zunutze. Einerseits fällt die Umsatzsteuer bei Geschäften von einem EU-Staat in einen anderen de facto weg. Sehr wohl aber wird sie bei Geschäften innerhalb eines Landes fällig. Andererseits hat man beim Abführen der Steuer eine bestimmte Frist, nämlich drei Monate für die Steuererklärung und ein weiteres für die Bezahlung zur Verfügung. Das bedeutet, dass die Finanzbehörde bis zu vier Monate auf das Eintreffen der Steuerzahlung warten muss. Selbst bekommt ein Käufer, der Mehrwertsteuer entrichtet hat, dieses Geld aber am Ende jenes Monats von der Finanz zurück, in dem das Geschäft getätigt wurde, also maximal innerhalb von 30 Tagen. Das Besondere an dieser Betrugsform ist, dass sie sich wie in einem Karussell nahezu beliebig wiederholen lässt, daher auch der Name Karussellgeschäft oder -betrug.

Beispiel

Ein Beispiel: Eine in einem EU-Staat beheimatete Firma A verkauft Waren im Wert von einer Million Euro an das Unternehmen B in einem zweiten EU-Staat, was für beide steuerneutral ist. B verkauft nun weiter an C und berechnet wegen der 20-prozentigen Mehrwertsteuer 1,2 Millionen Euro dafür. Die 200.000 Euro mehr müsste B innerhalb einer bestimmten Frist an sein Finanzamt abführen. Hingegen bekommt C die Mehrwertsteuer sofort rückerstattet. Innerhalb der ihm auferlegten Frist verschwindet nun B - deshalb auch der englische Begriff "Missing Trader" -, der Staat wurde um 200.000 Euro betrogen. C verkauft unterdessen die Ware steuerneutral zurück an die Firma A, und das Spiel kann von neuem beginnen. Nicht einberechnet wurden natürlich auch allfällige Maßnahmen zur Verschleierung der Konstruktion, etwa das Verlangen höherer Preise, um einen Gewinn auszuweisen.

Dass die drei Unternehmen unter einer Decke stecken, ist meist der Fall, so die Europol-Experten. Das muss aber nicht so sein. Gerade bei umfangreicheren Karussellgeschäften werden gerne seriös arbeitende Firmen zwischengeschaltet, die von dem Betrug nichts merken.

Die Täter werden bei den Waren, die im Kreis geschickt werden, immer erfindungsreicher. "Bisher galt meist der Grundsatz: Wenig Volumen, hoher Wert", erläuterte Rondelez. Vor allem Mobiltelefone und Computerteile boten sich da an. Doch auch mit Softdrinks, Gold und Platin oder mit Erdäpfeln wie bei einem Fall in Rumänien wurden schon solche Betrugsdelikte abgezogen. Einer der jüngsten Trends ist der Umsatzsteuerbetrug über den CO2-Emissionshandel. Denn auch für die Zertifikate sei Umsatzsteuer zu entrichten, erläuterte Rondelez.

Auch mit dem Import von Gütern aus Nicht-EU-Staaten gab es bereits ähnliche Machenschaften. Europol-Experte Rafael Rondelez: "Normalerweise zahlt man Zoll und Steuern, wenn die Güter den Bestimmungshafen erreichen. Aber wenn der Hafen nicht das Bestimmungsland der Waren ist, werden diese Gebühren erst dort abgeführt." Chinesische und vietnamesische Tätergruppen hätten zum Beispiel auch gleich einen Zollbetrug durchgeführt, in dem sie eine niedrigere Zollerklärung für die importierten Güter erstellten.

Kein Kavaliersdelikt

"Eines ist klar: Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass es sich dabei um ein sogenanntes White-Collar-Crime von findigen Geschäftsleuten handelt. Da geht es um Organisierte Kriminalität", ergänzte Carlo van Heuckelom, Leiter der Abteilung. In Großbritannien wurden im Dunstkreis von Umsatzsteuerbetrugs-Gruppen mehrere Auftragsmorde begangen. Auch wurden einige der Betrüger selbst wiederum erpresst. Eine Spur der abgezweigten Gelder führe nach Dubai, eine weitere Route nach Pakistan. "Es gibt belegte Verdachtsmomente, dass mit Umsatzsteuerbetrugsdelikten islamistischer Terrorismus finanziert wird."

Rondelez erklärte auch, warum Umsatzsteuerbetrug für kriminelle Organisationen attraktiv ist: "Personen, die zuvor wegen Drogenhandels oder anderer Delikte der Schwerkriminalität verurteilt worden sind, sehen nun, dass es keinen Grund für dieses Risiko gibt. Sie steigen um, wegen des geringeren Risikos beim Umsatzsteuerbetrug." Die EU werde mehr und mehr das Spielfeld für diese Kriminellen aus Ländern außerhalb der Union. Es wurden Tätergruppen aus Israel, dem Balkan oder Lateinamerika beobachtet. Das Geld geht nicht selten auch auf Offshore-Banken. Die Europol-Experten wussten von einer auf besondere Kunden spezialisierten Bank auf Curacao: Man musste kriminell sein, um Geschäfte über dieses Geldinstitut abwickeln zu können.

Zurück zum MTIC-Betrug: Die Bekämpfung sei schwierig, so Rondelez. Der schwächste Punkt sei das Zusammenspiel zwischen Aufdeckung der Delikte und Verfolgung der Täter. Zum einen ist die Umsatzsteuer noch immer eine nationalstaatliche Domäne. Zum anderen sind für ihre Aufdeckung in der Regel die Finanzbehörden zuständig, für die Strafverfolgung aber Justiz und Polizei. Vor einem Jahr habe Europol das entsprechende Analysis Work File (AWF, ein operatives Analyse-Instrument mit personenbezogenen Daten, Anm.) für MTIC eröffnet. "Wir waren in der Lage, die Verwaltungs- und die Strafvollzugsbehörden zusammenzubringen", sagte Rondelez.

Einer der wichtigsten Punkte ist für die Europol-Experten, wie man an die durch die Betrugsdelikte generierten Gelder kommt, sie abschöpft. "Darum geht es ja den Kriminellen im Endeffekt, Geld verdienen. Das Motto muss also lauten: Stelle sicher, dass sich Verbrechen nicht auszahlt", so van Heuckelom. (Von Gunther Lichtenhofer/APA)