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Reden über das "soziale Europa": Ex-SPD-Chef Kurt Beck.

Foto: EPA

Man habe nur zu wenig Zeit gehabt, den "kritischen Europakurs für ein soziales, bürgernahes Europa" darstellen zu können, erklärte Kanzler Werner Faymann das Wahldebakel. Interessant ist dabei, dass Faymann „Kritik an Europa" mit einem "sozialen Europa" in Zusammenhang bringt, so als würde das eine das andere bedingen. Grundsätzlich ist er dafür, dass „der Staat in Zeiten der Krise soziale Netze sichert". Der Nationalstaat also. Von einer Europäisierung der Sozialpolitik ist bei ihm nicht die Rede, aber auch von anderen führenden Sozialdemokraten in Europa wird diese Forderung nicht erhoben, obwohl viele sozialdemokratischen Parteien bei der EU-Wahl massiv Stimmen einbüßten, den Wählern also offenbar ein sozialdemokratisches Angebot auf europäischer Ebene fehlt.

Europäer, die seit den 1970er-Jahren sozialdemokratische Politik mit wohlfahrtsstatlichen Maßnahmen verbinden, finden diese Identifizierungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene tatsächlich nicht wieder. Obwohl die Kritik schon da ist. Bereits 2005, als die französische Linke gegen den Verfassungsentwurf mobilisierte, wurde das Argument gebraucht, „die EU" sei zu wirtschaftsliberal und zu wenig „sozial". Dennoch wurde aber Sozialpolitik als Kernbereich nationalstaatlichen Handelns nicht infrage gestellt.

So haben die Mitgliedstaaten „die EU", die sie ja maßgeblich gestalten, bisher nicht dazu ermächtigt, eine Umverteilungspolitik zu machen, wozu etwa auch Steuern auf europäischer Ebene notwendig wären. Auch im EU-Recht wird ausdrücklich von der Befugnis der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Grundzüge ihrer Sozialsysteme gesprochen. Die Maßnahmen der Union dürfen nicht „die Stabilität der nationalen Sozialsysteme beeinträchtigen". Das ist ein dicker Riegel.
Gleichzeitig sind die Wohlfahrtsstaaten nicht erst seit der Wirtschaftsflaute in der Krise, durch den geringer werdenden Einfluss der Nationalstaaten auf die eigene Wirtschaft werden die Finanzierungsmöglichkeiten für die Sozialpolitik geringer. Es gibt einen Binnenmarkt, aber kein Binnen-Wohlfahrtsstaat. Das Gemeinschaftsrecht sieht „nur" Mindeststandards vor, etwa im Arbeitsrecht oder in der Koordinierung von Sozialsystemen - so werden im Krankheitsfall EU-Bürger in allen EU-Staaten versorgt, Arbeitslosengeld und Pensionsansprüche können ins EU-Ausland „mitgenommen" werden. Der Europäische Gerichtshof spielt da eine europäisierende Rolle.

Eine echte „Vergemeinschaftung" der Sozialpolitik gibt es aber nicht. Tatsächlich wäre eine Einigung auf eine gemeinsame EU-Umverteilungspolitik auch sehr schwierig, weil die Modelle und die Ideologien in den EU-Staaten sehr verschieden sind. Obwohl das - vor allem mit Blick auf die USA - oft beschworen wurde, gib es kein „europäisches Sozialmodell".
In Zentraleuropa basiert die Sozialpolitik auf dem konservativen Bismarck'schen Modell, in dem die Familie durch die Versicherung des männlichen Ernährers geschützt werden soll, während in der sozialdemokratischen skandinavischen Tradition das Individuum mehr im Zentrum steht, die Leistungen mehr durch Steuern finanziert und stärker vom Arbeitsmarkt abgekoppelt sind.

Schon als Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts die Krankenversicherung einführte, wollte er mit dieser Sicherheitsgarantie erreichen, dass sich die Arbeiter stärker dem Staat verpflichtet fühlen. Der Wohlfahrtsstaat ist also nicht nur eine Bastion der Sozialdemokratie, seine Krise wird der Linken aber mehr angekreidet. Von Sozialdemokraten wird erwartet, dass sie Sozialleistungen sichern, dafür bekamen sie Loyalität. Natürlich könnte man eine Loyalität der Bürger zu Europa auch durch eine gemeinsame Sozialpolitik forcieren, eine Europäisierung wäre für die nationalen Regierungen aber natürlich tatsächlich ein Machtverlust.

Die Krise der Sozialdemokratie in Europa ist auch eine Krise der Wohlfahrtsstaaten, die durch die Globalisierung und die Wirtschaftsflaute bedroht sind. (Adelheid Wölfl/ DER STANDARD Printausgabe, 10.6.2009)