In der Legislaturperiode bis 2014 ist das EU-Parlament stark wie nie. 

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Bereits in fünf Wochen werden die neuen EU-Mandatare nach der konstituierenden Sitzung in Straßburg vermutlich eine der wichtigsten Entscheidungen treffen, an denen das Europäische Parlament beteiligt ist: Bestätigung oder Missbilligung des von den Staats- und Regierungschefs vorgeschlagenen Kandidaten als Präsident der EU-Kommission.

Fünf Jahre dauert dessen Amtszeit. Weil nur die Kommission gemäß den EU-Verträgen „Initiativrecht" hat - nur sie Vorschläge für EU-Regelungen machen kann, die dann vom Ministerrat und dem Parlament abgestimmt werden -, kommt der Brüsseler Zentralbehörde und ihrem Chef die Schlüsselrolle bei der Gestaltung aller EU-Politik zu. Er hat in der Kommission (die als Kollegialorgan arbeitet) zwar nur eine Stimme wie jeder einzelne Fachkommissar auch.
Aber er verfügt dennoch - gerade zu Beginn - über starke Macht, wenn er will. Er ist es, der mit den Regierungen und Parteifamilien die Aufteilung der Fachbereiche und die personelle Besetzung der Kommission dirigiert; der Präsident kann später auch jedem Kommissar sein Ressort entziehen.

Auch wenn die Bestellung des neuen Kommissionschefs (siehe Bericht unten) noch mit einigen rechtlichen Fragezeichen verbunden ist (weil der Vertrag von Lissabon noch nicht ratifiziert ist), so dürfte nach dem Wahlausgang eines klar sein: Die Konservativen Europas werden den Präsidenten küren. Sie haben schon im Mai klargemacht, dass es wieder der Portugiese José Manuel Barroso werden soll, der bereits seit Herbst 2004 amtiert. Die Sozialdemokraten als Wahlverlierer in mehreren Ländern werden kaum die Kraft aufbringen, einen Gegenkandidaten ins Rennen zu schicken. Somit kann der Portugiese umgehend beginnen, mit Regierungschefs und Parlament erste Deals zu machen, die politischen Weichen zu stellen.

Komplex und kompliziert wie Europa ist, wird eine Art „großkoalitionäres" Paket geschnürt, in dem die wichtigsten Posten in den EU-Institutionen zwischen Parteifamilien, großen und kleinen Ländern, zwischen Ost und West fein austariert werden. Konservative und Sozialdemokraten kommen gemäß ihrer Stärke auch im EU-Parlament am meisten zum Zug. Parlamentspräsident für die halbe Periode dürfte Jerzy Buzek werden, früherer polnischer Premierminister und Christdemokrat, dem ab 2012 der Deutsche Martin Schulz folgt, derzeit SP-Fraktionschef.
Wenn die gesamte Kommission designiert ist, wird sich jeder einzelne Kandidat im EU-Parlament einer Anhörung unterziehen müssen. Am Ende des Prozesses stimmt das Parlament über die gesamte Kommission ab.

Was nun die inhaltliche Arbeit betrifft, so wartet auf die EU-Abgeordneten in den kommenden fünf Jahren ein Riesenprogramm. Auch dabei gilt jedoch: Viel hängt zunächst davon ab, ob der Vertrag von Lissabon bei der zweiten Volksabstimmung in Irland, die für Oktober geplant ist, angenommen wird oder nicht. Denn dieser Vertrag sieht die größte Ausweitung der Kompetenzen vor, die es seit dem Maastricht-Vertrag 1992 je gegeben hat. Die wichtigsten Punkte: Die Parlamentarier würden praktisch volle Mitbestimmung imn Bereich innere Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung, Asyl- und Einwanderungsfragen dazubekommen. Ebenso ginge beim gesamten EU-Budget wie der Agrarpolitik ohne Straßburg „nichts mehr".

Letzteres birgt Sprengstoff: Es gibt starke Strömungen im EU-Parlament, dass die EU endlich damit aufhören möge, fast die Hälfte ihres Budgets in die Subventionierung der Landwirtschaft zu stecken, und stattdessen auf andere Prioritäten - auf Zukunftsbereiche wie Forschung, Entwicklung, Alternativenergie, Soziales - setzen solle.

Die nächste Erweiterung

Aber auch ohne Lissabon-Vertrag kommen weitreichende Themen auf die Straßburger Agenda. Die Neuordnung des Finanzmarktes, dessen Aufsicht, Regeln für den Versicherungs- und Bankenbereich. Das Parlament hat volle Mitentscheidungskompetenz. Gleiches gilt für die Abschlussverhandlungen zum neuen Klimaschutzprotokoll, die im Herbst in Kopenhagen beginnen.
Weiteres großes Thema: Die EU-Erweiterung. Auch wenn die Türkei im Wahlkampf in Österreich dominierte, Ankara ist meilenweit von großen Fortschritten oder dem Beitritt entfernt. Stattdessen wird das Parlament um 2012 über einen Beitritt Kroatiens entscheiden, möglicherweise aber auch Islands oder Mazedoniens, eines weiteren Kandidaten. Denkbar ist auch, dass Verhandlungen mit Albanien und Serbien bis 2014 beginnen. Die Union bereitet sich auf die Integration des gesamten Balkans vor. (Thomas Mayer, DER STANDARD, Printausgabe, 8.6.2009)