Wien - Die SPÖ hat mit dem mäßig originellen Slogan „Kreisky - wer sonst?" gerade ihre absolute Mehrheit im Nationalrat verteidigt und Europa, genauer, die "Europäische Gemeinschaft" (EG), wie sie damals noch hieß, war nicht einmal eine politische Zukunftsperspektive im Land der vollkommenen Neutralität: Der kleine Klub der EG-Staaten wählte im Juni 1979 erstmals direkt seine 410 Abgeordneten ins Straßburger Parlament. Auch die deutsche Bundesregierung fand dafür einen mäßig originellen Slogan - "Europa wird volljährig".

Ganz so wie heute tat auch der erste Europawahlkampf vor 30 Jahren recht aufgeschlossen und übernational, drehte sich in Wahrheit aber vor allem um nationale Themen. Nur die Wahlbeteiligung scheint aus heutiger Sicht beeindruckend: 63 Prozent im EG-Durchschnitt, 65,7 in der westdeutschen Bundesrepublik, 85,5 Prozent in Italien, wo Wahlpflicht bestand. Es war der Anfang vom Ende: Nach der ersten Direktwahl ging die Wahlbeteiligung der Europäer nur stetig bergab.
Doch auch bei der Premiere im Juni 1979 gab es Tiefpunkte und die Enttäuschung über das verhaltene Interesse der Bürger war allgemein. Nur 31 Prozent der Wähler rafften sich in Großbritannien auf, wo auch die Europawahl an einem Wochentag angesetzt wurde und die große politische Schlacht ohnehin geschlagen war - im Vormonat, im Mai 1979, hatte Margaret Thatcher die Unterhauswahlen gewonnen und Labour von der Macht verdrängt.

An wohl gemeinten Aufrufen zur Stimmabgabe hat es dabei nicht gefehlt. „Die Leute, die abschätzig über das Europäische Parlament und die erste Gelegenheit, es direkt zu wählen, reden, haben keine Fantasie", schrieb Günther Gillessen in einem Leitartikel der FAZ, „weder für die Gefahren, die Europa bedrängen werden, noch für die Mittel, die es sich durch Zusammenschluss beschaffen kann, um sich und seine Lebensweise zu erhalten".

Ein müder Stier

Karikaturisten zeichneten einen müden Stier, der von Europa zur Wahlurne geschleppt wird, oder Politiker, die, an einen leeren Rollstuhl gelehnt, heftig nachdenken, welchen abgehalfterten Kandidaten sie noch nach Straßburg schicken könnten. Das Gegenteil war wahr. Bei der ersten Direktwahl des Europaparlaments traten Aufsteiger an wie Martin Bangemann zum Beispiel, späterer deutscher Bundeswirtschaftsminister (1984-89) und FDP-Chef; oder die französische Sozialistin Edith Cresson, die kurz - und erfolglos - erste Premierministerin (1991-92) wurde; beide führten dann als EU-Kommissare durch ihre Finanzaffären 1999 den Rücktritt der Kommission von Jacques Santer herbei.

Der jetzige Präsident des EU-Parlaments, der deutsche CDU-Politiker Hans-Gert Pöttering, kam 1979 erstmals ins Straßburger Parlament. Doch auch erfahrene Politgrößen wie der niederländische Sozialdemokrat Pieter Dankert gehörten zu den Abgeordneten. Für die deutsche SPD trat gar Parteichef Willy Brandt an, um die Bedeutung der ersten Direktwahl hervorzuheben. Simone Veil, Frankreichs führende liberale Politikerin, wurde Präsidentin des neu gewählten Parlaments;im Dezember 1979 verweigerte sie ihre Unterschrift unter das Budget der EG-Kommission - das neue Parlament zeigte sein Selbstbewusstsein.

Die im Rückblick wunderlichste Wahldebatte führte wohl die französische Rechte. Jacques Chirac, damals Chef der Neo-Gaullisten und in Opposition zum bürgerlichen Präsidenten Valéry Giscard d‘Estaing, zog gegen die erste Direktwahl ins Feld. Nach einem Autounfall unterschrieb er vom Krankenbett aus einen Aufruf gegen die Wahl und gegen die „Partei des Auslands", einem im französischen Diskurs besonders schwer wiegenden Begriff, der auf die Zeit der Kollaboration anspielt und damals Giscard treffen sollte. Chiracs Warnung: Das neue Straßburger Parlament werde sich als verfassungsgebende Versammlung gerieren und über Frankreich hinweg bestimmen. Ein Vierteljahrhundert später, im Frühjahr 2005, warb Chirac als französischer Staatspräsident für die EU-Verfassung, versuchte verzweifelt, eine Niederlage beim Referendum in Frankreich abzuwenden - und scheiterte. (Markus Bernath, 4.6.2009)