Der EU-Beitritt der Türkei ist ein Thema im Europawahlkampf zumindest in Österreich, obwohl er immer unwahrscheinlicher wird. Tatsächlich lassen sich gute Gründe dafür finden, warum ein Land wie die Türkei die EU überfordern würde. Nicht wegen des Islams, obwohl auffällt, wie selbst in einer so kosmopolitischen Stadt wie Istanbul innerhalb weniger Jahre das Straßenbild von kopftuchtragenden oder ganz verschleierten Frauen und Mädchen dominiert wird. Es geht um die politisch-gesellschaftliche Struktur des Landes. Nach einer jüngst veröffentlichten Umfrage meinen 60 Prozent, Frauen sollten ihren Männern gehorchen, und 33 Prozent, Frauen verdienten manchmal Prügel.

Gleichzeitig gibt es aber zehn bis 15 Millionen westlich-liberal orientierte Türken, die ihre Hoffnungen auf die EU richten. Es macht nachdenklich, mit einem prominenten Vertreter dieser Richtung zu sprechen.

Gengis Aktar ist ein führender Vertreter des liberalen Establishments der Türkei, Kolumnist der Zeitungen Vatan und Hürriyet und Initiator einer mutigen Kampagne, bei der Bürger im Internet eine Entschuldigung für den Genozid an den Armeniern 1915 unterzeichneten. Die Initiative hat 30.000 Unterschriften zusammengebracht. Vatans Forderung an die EU ist eindeutig: "Lasst uns nicht allein mit diesen Reaktionären, das ist eine Frage der Solidarität!"

Aktar gibt zu, dass die Türkei nicht reif ist für die EU, aber: "Mein Datum ist 2023, das sind dann 100 Jahre seit der Gründung der Türkischen Republik. Die Türkei ist den letzten zehn Jahren durch die Dynamik des EU-Prozess transformiert worden."

Die europäische Dynamik habe "wirklich Wunder bewirkt. Nehmen Sie nur unsere Entschuldigungskampagne gegenüber den Armeniern. Ohne EU wäre ich ins Gefängnis gekommen oder auf der Straße ermordet worden. Die europäische Dynamik ist der Schlüssel für die Transformation der Türkei" .

Aktar ist Teilnehmer am sogenannten "Istanbul Seminar" , einem Dialogkongress, der schon zum zweiten Mal von der NGO "reset.doc" mit renommierten Teilnehmern aus dem intellektuellen Leben Europas, der USA und dem muslimischen Raum veranstaltet wird. Die "Reset" -Dialoge wurden von Nina zu Fürstenberg gegründet und werden von Georg Heinrich Thyssen unterstützt.

Dieses Jahr konzentriert sich die Diskussion an der privaten Bilgi-Universität auf "Religion, Menschenrechte und multikulturelle Jurisdiktionen" . Die Standpunkte sind liberal, manche Teilnehmer wie der ägyptische Koran-Experte Nasr Abu Zayed haben es schon mit den Fundamentalisten zu tun bekommen.

Aus dieser Sicht erscheint der EU-Beitritt der Türkei zwingend für das Überleben der liberalen, menschenrechtsorientierten Strömungen in der islamischen Welt. Für Menschen wie Aktar wäre eine privilegierte Partnerschaft auch nicht genug: "Wir brauchen den Beitritt für unsere politische Entwicklung." So stehen liberale Europäer vor der Frage, ob sie die liberale Türkei im Stich lassen, wenn sie skeptisch gegenüber der noch tiefkonservativen Türkei sind. (Hans Rauscher/DER STANDARD, Printausgabe, 3.6.2009)