ZUR PERSON: Helmut Neunzert, geboren 1936, baute das Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik der Fraunhofer-Gesellschaft auf und war erster Juryvorsitzender des Calls "Mathematik und..." 2004.

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Standard: Das Programm des Wiener Wissenschaftsfonds, "Mathematik und..." , setzt voraus, dass Mathematiker und andere Wissenschafter miteinander können?

Neunzert: Ich denke, schon. Mathematiker haben kapiert, dass sie die Welt brauchen, die Welt hat aber auch verstanden, dass sie die Mathematik braucht. Ich drücke das gern über die sogenannten Mint-Fächer aus, also Mathematik, In-formatik, Naturwissenschaften, Technik. Mint ohne "M" ist kopflos, "M" ohne "int" ist energielos.

Standard: Das heißt in der Praxis?

Neunzert: Mit Mathematik hat man immer versucht, Probleme zu lösen. Dank besonders leistungsfähiger Rechner kann man diese Lösungsmodelle auch ausrechnen. Das ist erst seit zwanzig, dreißig Jahren möglich.

Standard: Die Physik denkt sowieso von jeher sehr mathematisch, die Biologie hat auch die Möglichkeiten erkannt, zum Beispiel, um Bewegungen in Zellen zu berechnen. Wo sehen Sie weitere Anwendungsmöglichkeiten für die Mathematik?

Neunzert: Aus der Wirtschaft kennt man das neudeutsche Wort "Personalized Services" . Das wird es wohl auch irgendwann in der Medizin geben müssen. Sie nimmt dann die Daten eines Patienten auf, bisher überstandene Krankheiten, Erbkrankheiten in der Familie, von Eltern und Großeltern, auch die Genstruktur. Dann schaut sie sich an, mit welchen Medikamenten der Patient am effektivsten behandelt werden könnte. Die beiden Datenmuster werden gematcht - und herauskommen sollte eine personalisiertes Behandlungsmuster. Das will die Pharmaindustrie natürlich noch nicht, die wollen derzeit die große Masse und so ihr Geld verdienen. Aber sie werden nicht drum rumkommen.

Standard: Welche Rolle wird dabei die Mathematik spielen?

Neunzert: Unser Job ist es, Muster zu erkennen. Ich vergleiche das mit den Holzformen meiner Großmutter, wo sie den Teig reinfließen ließ. Wenn die Welt der Teig ist, ist die Mathematik diese Teigform. Die Mathematik steht in der Medizin erst am Anfang. Es gibt Simulationen. Die Mathematik spielt bei bildgebenden Verfahren eine Rolle. Aber weiter ist man noch nicht gekommen. Und es geht weiter.

Standard: Angesichts all dieser Beispiele stellt sich die Frage, warum Mathematik bei vielen Schülern nach wie vor unbeliebt ist?

Neunzert: Selbstverständlich. Das muss aber auch in die Köpfe der Lehrer. Das dauert einfach noch eine Zeit lang. Rechnen wird man immer lernen müssen, aber vielleicht gibt es ja in Zukunft mehr Anwendungsbeispiele und weniger von diesen albernen Textaufgaben in den Schulbüchern. Sie wissen schon: Der Matrose war 30, wie alt war der Kapitän? (Peter Illetschko, DER STANDARD/Printausgabe 3.6.2009)