Die berühmte Jahrhunderthalle in Wroclaw (Breslau) beherbergt eine beeindruckende Ausstellung zum europäischen Jubiläumsjahr 2009.

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Erinnerung an europäische Diktaturen in Ost und West: eine gestürzte Lenin-Statue... 

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...und eine Folterkammer aus der Zeit der Franco-Herrschaft in Spanien.

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Wroclaw (Breslau) - Schwarze Soldatenstiefel, ausgebeult, aber auf Hochglanz poliert. Ein Schuh auf dem Boden, der andere in der Höhe. Unheilvoll dräuende Musik. Man glaubt den festen Tritt einer todbringenden Hundertschaft zu hören. Krieg in Europa. Damit beginnt die Ausstellung Europa - das ist unsere Geschichte in der niederschlesischen Metropole Wroclaw (Breslau) in Polen. Es ist eine Erfolgsgeschichte: vom Krieg zum Frieden; von Zerstörung zu Wiederaufbau und neuer Blüte; aus Feinden werden Freunde. Ein bisschen Pathos gehört dazu.

Am Eingang der berühmten Jahrhunderthalle von Breslau, die auch auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes figuriert, schwirren die Sprachen durcheinander: Deutsch und Polnisch, Tschechisch und Englisch. Im Innern der Halle steht Breslaus Stadtpräsident (Oberbürgermeister) Rafal Dutkiewicz auf der Bühne. Es ist dunkel. Ein Spot strahlt ihn an. Rings um ihn scharen sich knapp 200 Kinder.

Dutkiewicz eröffnet die Ausstellung. "Wir sind seit fünf Jahren in der EU" , sagt er. "Das ist unser größter Erfolg seit 1989 und der damals neu gewonnenen Unabhängigkeit. Daher haben wir die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union aus Brüssel nach Breslau geholt. Lasst uns gemeinsam feiern - Ost- und Westeuropa vereint in der EU!" Damit spielt er darauf an, dass die Schau ursprünglich in der EU-Metropole gezeigt wurde (siehe Webtipp). Als die Kinder die Hymne Europas auf Polnisch singen - Freude schöner Götterfunken -, wischen sich viele Besucher auf den Tribünen verstohlen über die Augen, so als wollten sie sagen: "Endlich. Wir gehören dazu."

Doch die Breslauer haben die Geschichte Europas, wie sie aus Brüssel kam, um zahlreiche polnische Facetten erweitert. So gehen die Ausstellungsbesucher erst an den Soldatenstiefeln vorbei, durch das kriegszerstörte Köln hindurch, treffen auf belgische Lebensmittelkarten und die Kunst des polnischen Realsozialismus.

Hoch das Proletariat

"Gib mir den Ziegel" , heißt eines der berühmtesten Bilder der Schau. Es feiert das Proletariat. Dass Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Jean Monnet und Winston Churchill in der Brüsseler Ausstellung als "Revolutionäre des Friedens" bezeichnet, aber nur dezent gefeiert werden - hier mit einem Spazierstock, dort mit einer Brille, einer kleinen Büste oder einem Buch - ist für viele Polen eine ungewohnte Sichtweise.

Noch erstaunlicher aber ist, dass man fast alles angreifen darf, sogar die amerikanische und die sowjetische Rakete, die einst in Zeiten des Kalten Krieges aufeinandergerichtet waren. Ein junger Mann stellt sich zwischen die Geschoße und hebt zwei Finger zum "V" -Zeichen. Es steht für den Sieg der Solidarnoœć, der polnischen Gewerkschaftsbewegung für Demokratie und Freiheit.

Dass die europäische Einigung nicht nur die Geschichte von Politikern, von Staaten und Verträgen ist, machen 27 "ganz normale" Europäer und Europäerinnen deutlich. Auf Videobildschirmen erzählen sie, wie sie selbst ein Stück Europa erkämpft haben, wie die EU ihr Leben oder auch ihr Denken verändert hat.

Eine Folterkammer aus der spanischen Diktatur unter General Franco lässt wieder viele Besucher zurückschrecken. Verhörmethoden mit Stromschlägen, Schlafentzug und Schlimmeres gehören auch in den neuen EU-Ländern noch nicht allzu lange der Vergangenheit an. Aber dass die Spanier auch so leiden mussten, womöglich auch die Ostdeutschen, die Portugiesen und die Griechen, die ebenfalls unter einer Diktatur litten, das verbindet. Dann die Volksaufstände in der DDR, Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, die Streiks auf der Danziger Werft.

Das eigene Leben als Beitrag

Nach 1989 und dem Fall der Berliner Mauer beginnt die Wiedervereinigung Europas in der EU. Mit dem Schengen-Vertrag fallen die Grenzen, der Euro verbindet immer mehr EU-Länder. Wer von den Besuchern jetzt noch Kraft und Lust hat, kann an einem Computer sein eigenes Leben in die Geschichte Europas einreihen. Oder, wer es politischer mag, das Budget der EU für das nächste Jahr planen. (Gabriele Lesser/DER STANDARD, Printausgabe, 26.5.2009)