"Wenn er kollabiert, dann zeigt er gleichzeitig auch immer die Brüchigkeit des gesamten Systems: Kunst. Markt. Welt. Bühne." Christoph Schlingensief am 23. März bei der Aufführung seiner ReadyMadeOper "Mea Culpa" im Burgtheater.

Foto: Toppress/Schöndorfer

"Der Egoismus ist oft nur das verruchte Pseudonym der besten menschlichen Möglichkeiten. Was unter dem Licht der Humilitas-Hysterie wie ein lasterhaft übertriebener Selbstbezug erscheint, ist meistens nicht mehr als der natürliche Preis der Konzentration auf eine seltene Leistung. Wie anders soll der Virtuose sein Niveau erreichen und halten, wenn nicht durch das Vermögen, sich selbst und seine Kunst triftig zu evaluieren?" 

Du mußt dein Leben ändern: Peter Sloterdijks grandiose Analyse zur "Anthropotechnik" , in der die "religiösen" Menschen und die trainierenden Menschen und die egoistischen Exzentriker und alle anderen am Fließband des Lebens Tätigen übend und in beständiger Wiederholung einander näher sind, als es uns die Fundamentalisten weismachen wollen: Dieses Buch fand der Verfasser dieser Zeilen kürzlich in einer Bahnhofsbuchhandlung. Zwischen Lebensratgebern und Lebensgeständnissen und "beispielhaften" Biografien. Orientierungshilfen, die den Markt gegenwärtig überfluten, als ging's darum, dort, wo es "so nicht weitergehen kann", möglichst kompakte Nachtkästchenlektüre für Pausen zwischen Alb- und Angsträumen zu kriegen.

Du mußt dein Leben ändern: Offenbar hatte ein unzureichend geschulter Mitarbeiter gedacht, der Titel sei didaktisches (Nischen-) Programm. Und ziemlich sicher wird man dieser Tage nun zwischen den einschlägigen Publikationsstapeln, vielleicht direkt neben Sloterdijk, ein weiteres Buch finden, das den auf schnelle Reize und kompakte Lehren erpichten Verbraucher gehörig in die Irre führt.

Es trägt den verführerisch lebensfrohen Titel So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! (ja, mit Rufzeichen), könnte also durchaus auch von Johannes Heesters oder irgendeinem weltweise gewordenen Talk-Show-Moderator stammen. Geschrieben (richtiger: diktiert) hat dieses "Tagebuch einer Krebserkrankung" Christoph Schlingensief. Worauf der Verfasser dieser Zeilen jetzt gerne noch ein Rufzeichen folgen lassen könnte. In den letzten Monaten hat er mit Schlingensief halb heiter, halb entsetzt einige Diskussionen darüber geführt, ob er sich nun tatsächlich die Johannes-Kerner-Front ("Erzählen Sie doch mal von einer einzigartigen Erfahrung!") antun wolle.

Nun, Schlingensief war bei Beckmann. Auch Elke Heidenreich hat ihm dort öffentlich ihr Beileid ausgesprochen. Kein Interviewer aus dem Feuilleton (und das sind meist die voyeuristischsten) scheint vermeiden zu können, angesichts von Schlingensiefs Krankheit den Tonfall auf ein dezent mitfühlendes Niveau zu senken und den vorher als Selbstdarsteller und Provokateur Verfemten schonender zu behandeln. Bei Besprechungen der ReadyMadeOper Mea Culpa im Burgtheater führte dies etwa zuletzt zu endlosen Elogen auf das Hochpersönliche der Auseinandersetzung mit Krebs (als sei Schlingensief, der Radikalsubjektivist, je unpersönlich gewesen) bei gleichzeitiger Ausblendung einer virtuosen Verschränkung von filmischen, bildnerischen und theatralischen Techniken, die natürlich über das Persönliche weit hinaus geht.

Wenn Schlingensief kollabiert, dann zeigt er gleichzeitig immer die Brüchigkeit des ganzen Systems: Kunst. Markt. Welt. Bühne. So ist jetzt auch sein "Tagebuch" eine gewaltige, maßlose Irreführung. Zwar bietet er parallel dazu im Internet jetzt auch eine Plattform für "geschockte Patienten" und ihren Kampf um Autonomie gegen den "autonomen Krebs" an.

Aber insgesamt ist sein Buch näher bei großen literarischen Selbstzeugnissen wie Fritz Zorns Mars oder Thomas Bernhards Der Atem, als dass es wirklich zum Erfahrungsaustausch unter Geschädigten einladen würde. Für so etwas lebt Schlingensief, sehr simpel formuliert, zu sehr in seiner eigenen Welt. Hier schreibt/spricht ein Mensch, der jahrelang meinte, von Wagners Parsifal vergiftet worden zu sein. Ein Regisseur, der erwägt, Walter Ruttmanns Oper Johanna vom Bett aus inszenieren zu können. Ein Sohn, der am Grab des geliebten, verhassten Vaters Erscheinungen hat.

Ein Hypersensibler, der sich peinigend physisch in den eigenen Brustkorb versenken kann, in dem plötzlich ein Lungenflügel fehlt. Ein Atemloser, der zu delirieren beginnt. "Jesus hat sich mir, Christoph Schlingensief, in der Kapelle gezeigt, indem er mich verstummen ließ, und plötzlich wurde alles ganz warm. Ja, super, du Leidensbeauftragter! Das war ein schönes Erlebnis, kann ich nicht abstreiten. Hat mir was gebracht. Fand ich schön. Aber Jesus ist trotzdem nicht da."

Da wäre zum Beispiel die Geschichte mit dem Kind. Schlingensief trifft im Krankenhaus auf eine Mutter vor einem Kinderbettchen. "Ich habe sie gefragt: Was hat Ihr Kind? Was ist mit Ihrem Kind? Sie sagte, das rollt immer so komisch auf den Fußballen ab, das läuft immer nur ganz vorne auf den Zehenspitzen. Wissen Sie, warum Ihr Kind das tut?, sagte ich. Weil Ihr Kind einfach besonders intelligent ist. Ihr Kind ist einfach ein hochintelligentes Wesen, ein Autist. Das sind die, die auf Zehenspitzen durch die Welt laufen. Die haben so viel zu denken, dass sie auf dieser Erde nur ganz vorsichtig gehen können."

Alexander Kluge, so Schlingensief, habe später gemeint, dass er das sei: dieses Kind. Dies lesend mag man an eine Schlüsselszene aus Mea Culpa denken. Schlingensief betrachtete dort gemeinsam mit dem Publikum eine Drehsequenz aus Brasilien, ein Wagnerorchester, in kreisenden Bewegungen, immer wieder unterbrochen von längeren Strecken Schwarzfilm. "Wo werde ich jetzt gleich hinblicken?", fragte der Künstler, traumwandlerisch tanzend im eigenen Bild, aus dem er "nicht heraustreten will". "Was kommt jetzt?" Der Schwarzfilm und der Raum zwischen den Kadern, das sei das Entscheidende. Hier liege der wahre Film.

Nachher wurde dann noch aus Krankheitsberichten anderer Künstler/Menschen gelesen. Es folgte die Aufforderung Schlingensiefs, man möge, wenn man erkrankt sei, doch selbst ein Buch schreiben. Aber das waren, wenn man so will, nur unreine Stellen nach dem solipsistischen, "egozentrischen" Tanz eines Hochbegabten, der nicht innehalten will, alles, was er wahrnimmt, einzufangen, auf sich selbst zu beziehen und zu projizieren, als sei er selbst Kamera und Leinwand und Filmstreifen zugleich. Und irgendwann flasht er uns, immerfort weiter kreisend und übend, uns dann von der Wagnerbühne in Bayreuth entgegen, oder aus einer Angstkirche in Duisburg oder eben aus einem Lebensberatungsregal in einer Bahnhofsbuchhandlung. Oder bei Beckmann. Da haben wir zugegebenermaßen ein wenig gelitten.

Lesen wir weiter bei Sloterdijk: "Wo man den Egoismus vermutete, um ihn in flüchtigen Bösesprechungs-Verfahren zu verdammen, findet man bei genauerem Hinsehen die Matrix der herausragendsten Tugenden. Ist dies offengelegt, sind die Demütigen an der Reihe, zu erklären, wie sie es mit dem Hervorragenden halten." Und jetzt bitte noch ganz viel (Schwarz-)Film vor dem letzten Cut. (Claus Philipp, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 25./26.04.2009)