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Der passende Soundtrack für die Lektüre dieses Roman könnte - quasi interkulturell - dem Wiener Praterstern entstammen, wenn das A-Team der angestammten Alkis und Sandler in der grauen Morgenluft vor dem Billa-Eingang verweht. Frühstückstipp: eine Bratwurst, die nur aus Darm und Sägemehl besteht, dazu warmes Billigbier. Eine Milieustudie, nur stammt sie im vorliegenden Roman nicht aus dem inneren Sibirien Wiens, sondern aus dem osteuropäischen Berlin nach der Wende, als die Stadt noch die Schutthalde der deutschen Geschichte und nicht die schicke Metropole der Immobilienhaie, Kanzleramtsschimmel und Praktikantinnen war.

Der Protagonist des Buches, ein gewisser DeLoo, ein abgeschlampter Ex-Kameramann, schleppt sich durch den Zivilisationsmüll an seinen neuen Arbeitsplatz, eine Großküche, die Fertigmenüs auf klapprigen Lieferwagen durch die ganze Stadt schickt, in Firmen wie in Stundenhotels. Bis der Jobber schließlich in eine Epiphane günstiger Ahnung hineinwankt: "Plötzlich empfand er deutlich, was das ganze Leben in ihm vorbereitet hatte, so wie ein ferner Ton, der seine Schwingung, die Molküle stimmt, bis sie Jahrhunderte später eine Form annehmen, den Hauch einer Maserung im Kork, eine grüne Spitze zwischen Steinen."

Nicht immer freilich ist der Ton so getragen wie hier. Die getriebenen Essenszubereiter und -zusteller dieses Textes sondern eine defiziente Sprache ab, in der Berliner Schnauze, Türkisch, Polnisch und andere Idiome zum deutschen Einheitsmenü werden: "In der hinteren Ecke verströmte ein Brenner auf einer leeren Bierkiste eine blendende Glut und ließ die Gestalten, die vor ihm auf dem Boden hockten, zunächst nur schemenhaft erkennen. Grob umrissene, vom eigenen Goldrand versengte Ikonen, und jemand in dem Haufen sagte: ,Det Rote vorje Woche, det war keene Nachspeise, Klappu. Det war'n Dessert auß'm Jenseits. 'ck hab mir alle krätzigen Finger jeleckt.'"

Ob da der Leser mitleckt? Der Autor, Ralf Rothmann (Jahrgang 1953) erfreut sich in Deutschland jedenfalls eines großen Zulaufs, zumal er als "Literat der Single-Zeit" punziert ist, als Lokalpoet des Ruhrpotts (und neuerdings Berlins), oder schlichtweg als "1978er" aus dem "Generationsloch": "zu jung für die Apo und zu alt für Punk". Alles Etiketten. Am ehesten trifft wohl die Beobachtung zu, dass es sich hier um einen Autor handelt, der sich mit vergleichsweise realistischen Mitteln dem "Miljöh" annähert, was in Berlin nicht traditionslos, aber auch nicht unproblematisch ist.

Der ruhelose DeLoo, der mit dem Tod seiner Lebensgefährtin auch seinen Halt verloren hat, ist ein Nachgeborener von Rilkes Malte, von naturalistischen Lokalhelden, Charles Bukowski und vieler anderer kaputter Typen der Weltliteratur; so auch von Georges Rodenbachs pathetischem Protagonisten aus Bruges-la-Mort, der Brügge auf der Suche nach seiner toten Frau - oder nach einer passenden Kopie - durchstreift. Rothmann hat gewissermaßen eine Penner-Version dieses Textes produziert, der an seinem Hang zu akribischen Umgebungsnotaten scheitert - und an der so genannten Liebe: DeLoo landet schließlich bei und in der polnischen Stadtstreicherin Lucilla (in einer ziemlich uninspirierten Sexszene im Badeteich, die gleichsam den Hintereingang nimmt).

Einmal mehr bewahrheitet sich hier die literarische Binsenweisheit, dass genaues Beschreiben noch keine Atmosphäre schafft. Gerade der Hang der Textes zum konkreten Adjektiv erweckt nur den Eindruck eines ernst genommen Creative-Writing-Workshop - Chemie mit den Protagonisten kommt nicht so recht auf, abgesehen von einem gelegentlichen Aufblitzen in der narrativen Retorte. Der Berliner Witz verpufft, denn das unökonomische, uneingefasste Erzählen bleibt in Tableaus des Alltags stehen, in einer Art von Monumentalmikroskopie - andere Autoren hätten auf demselben Raum einen ganzen historischen Roman mit allen Beweggründen der Figuren entfaltet. Oder eine scharfe soziobiologische Analyse, wie sie etwa Michel Houellebecq eigen ist.

Schlussendlich scheitert Rothmanns Roman an dem, was generell für eine neuere Berlinliteratur charakteristisch scheint: an seiner - hier etwas weinerlichen - Quatschsucht. Nouvelle cuisine aus der Großküche? Der Text ist eine Lektüre eher in Hinblick darauf wert, dass die alten Losertypen der Stadt auch die der Zukunft sein könnten - in einer Metropole, die ihre groben Probleme nicht mit Glasarchitektur verdecken kann. Und auch nicht mit Literatur. (Von Clemens Ruthner/DER STANDARD; Printausgabe, 15.03.2003)