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Im Frühjahr, wenn sich der Schnee verfestigt hat, ist es Zeit für die steilen Variantenrouten von Innsbrucks Skidorado Seegrube. Für gute Skifahrer eine der schönsten ist die Firnabfahrt durch den Höttinger Graben. Sie endet unweigerlich in der Nachmittagssonne auf der Terrasse des Gasthofs "Frau Hitt" auf dem Gramartboden, und nichts ist dann so gut zu einem frischen Bier wie eine Portion "Graukas".

Zugegeben, der Anblick ist gewöhnungsbedürftig, wie der von Kutteln. Ebenso der Geruch, und erst recht der Geschmack. Der "Graukas", eine unscheinbare Nationalspeise in allen drei Landesteilen Tirols, schmeckt selten auf Anhieb, er will erkostet werden. Nichttiroler Studenten, die zum notorischen Skisemester nach Innsbruck kommen, erleben dies als Initiationsritual in den letzten noch nicht der Tourismusgastronomie verfallenen Gasthäusern in und über der Stadt: im "Innrain", im "Bretterkeller", im "Planötzenhof" oder eben im Gasthof "Frau Hitt".

Seiner Herkunft nach ist der graue Käse, der seinen Namen einer vor dem Verkauf abgewischten Schimmelschicht verdankt, ein Produkt der Resteverwertung auf Almen und Höfen. Die entrahmte Milch ließ man sauer werden, erhitzte und salzte sie und presste die topfenartige Masse in Holzformen, die dann zwei bis drei Wochen im warmen Stall reiften. Es gibt noch Bauern und Sennen, die den Graukäse nach dieser Methode herstellen, aber meist wird er heute in genossenschaftlichen Käsereien produziert, nicht mehr in Laiben, sondern in Ziegelform.

Früher einmal war es selbstverständlich, dass der Gast im Wirtshaus gefragt wurde, wie er den Graukas möchte, und das hieß bröselig, speckig oder durchzogen. Daran scheiden sich die Geschmäcker. Der junge, weiße und topfenartig bröselige Käse schmeckt frisch und etwas säuerlich. Bei Zimmertemperatur wird er in wenigen Tagen von außen nach innen gelblich-glasig, nicht unähnlich dem Quargel oder dem Kärntner Glundner. Mit zunehmender Reife werden Geruch und Geschmack würziger und leicht bitter, die Konsistenz wird immer weicher, bis der Käse "davonläuft".

Die moderne Kühltechnik erlaubt es, dass Gasthäuser ihren Graukas einem Reifestopp unterziehen, sodass man immer seltener den nur von einer kleinen Zahl von Liebhabern begehrten sehr speckigen bekommt. Die Zubereitung des Graukäses, einer traditionellen "Vormaß" - oder "Marende"-Speise (Vormittags- oder Nachmittagsjause) ist klassisch einfach: Die knapp zwei Zentimeter dicken Scheiben werden üppig mit roten Zwiebelringen belegt, mit viel Pfeffer, aber kaum Salz gewürzt und mit Salatöl und Essig angerichtet.

Wer sich mit dem Graukas in seiner Rohform immer noch nicht anfreunden will, für den hat die Tiroler Küche zwei Verwendungsarten hervorgebracht, die zu den absoluten Köstlichkeiten der alpinen Kochkultur zählen: die Zillertaler Krapfen und die Pustertaler Schlipfkrapfeln. Beide sind in ihren Zutaten und in der Grundverarbeitung fast identisch, bringen aber durch die Zubereitung höchst individuelle Gaumengenüsse: Eine Mischung aus Weizen- und Roggenmehl wird mit Salzwasser und Ei zu einem mittelfesten Teig verarbeitet. Daraus werden dünne, handgroße Teller gewalkt oder mit einer runden Form von zehn Zentimetern Durchmesser aus dem mit der Nudelmaschine dünn gewalkten Teig herausgestanzt. Aus gekochten mehligen Kartoffeln, fein gehackten und gerösteten Zwiebeln, Topfen, Graukäse, Butter, gehacktem Schnittlauch und Salz wird eine Fülle gemischt und abgeschmeckt. Ein guter Teelöffel dieser Fülle wird ins Zentrum der Teigflade gehäuft, diese wird halbkreisförmig zusammengeklappt und am Rand mit einer Gabel zusammengedrückt.

Bis jetzt besteht kein Unterschied zwischen den Zillertaler und den Pustertaler Krapfeln. Nun aber werden Erstere in heißem Butterschmalz herausgebacken, was ein heikles Verfahren ist, da das Schmalz heiß sein muss, damit die Krapfen rasch mürbe sind, aber nicht so heiß, dass sie dunkelbraun werden. Als Beilage wird, ganz wie bei den Schlipfkrapfeln, Kraut in jeder Form - als Sauer-, Rüben- und Speckkraut - serviert. Wegen der aufwändigen Zubereitung - Zillertaler Krapfen müssen ganz frisch auf den Tisch kommen - gibt es nur wenige Adressen für dieses Gericht: etwa das "Wirtshaus zum Griena" in Mayrhofen oder den Gasthof "Forelle" in Lanersbach, wo die Krapfen an bestimmten Wochentagen oder auf Bestellung serviert werden. Ein würdiger Abschluss für einen Firnschneetag auf den Zillertaler Gletschern.

Ob die Graukäsekrapfen über den Zillertaler Alpenhauptkamm nach Nordtirol kamen, ist ungewiss. Jedenfalls sind sie in ihrer südlichen, Pustertaler Form eine alpine Variante der italienischen Ravioli, wie überhaupt die Küche des Durchzugslands Tirol viel von Italien profitiert hat.

Die Pustertaler Schlipfkrapfeln verdanken ihren Namen der Tatsache, dass sie nicht in Schmalz gebacken, sondern wie Nudeln in siedendem Salzwasser leicht wallend zehn Minuten gekocht und dann mit Reibkäse, Schnittlauch und zerlassener Butter bestreut werden. Sie sind daher weich und "schlipfen" (schlüpfen) mollig den Hals hinunter.

Statt mit Graukäse werden die Schlipfkrapfeln oft auch mit Spinat, Faschiertem oder Hirn gefüllt. Zubereitet werden sie nur mehr an wenigen Orten, meist auf Höfen, die gegen Vorbestellung für Gruppen kochen, wie der Seiterhof oder die Villa Gustav Mahler, eine ehemalige Sommerfrische des Komponisten. Beide liegen in Toblach, dem Zentrum eines der schönsten Langlauf- und Mountainbikegebiete weit und breit. (Der Standard/rondo/14/03/2003)