Friederike Mayröcker: Gebieterin der Moderne in ihrer Wiener Verzettelungswirtschaft.

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Friederike Mayröckers (84) dichterisches Werk wuchert seit gut fünf Jahrzehnten allseitig aus: Die Flügel der Ausdruckskraft weithin ausspannend, verwebt die Wienerin alogische Traumnotate zu berückenden Bilderfolgen. Über viele Schaffensjahre hinweg waren Mayröckers Gedichte Gelegenheitsprodukte im besten Sinn des Wortes. Das Ingenium der Autorin schien auf Epiphanien angewiesen. Ihre spinnwebfeinen Texte waren Sammlungen von Sprachoffenbarungen: Sanfte "Verrückungen" des Alltagssinns schufen semantische Bedeutungshöfe von blendender Strahlkraft und hoher Suggestivität.

Oft gerieten Mayröckers Poeme über dem Gleißen ihrer wie unvermittelt aneinandergereihten Wortbrocken in ein somnambules Traumtanzen. Kindheitslandschaften bergen bis zum heutigen Tag das zitierbare Material, das Mayröcker zu immer neuen fragilen Gebilden zusammenschließt.

Mayröckers poetisches Prinzip ist daher ein waghalsiger Chemismus: Die Flüchtigkeit des Augenblicks wird von dem sich behutsam vorantastenden Gedicht im berühmten mehrfachen Wortsinn aufgehoben. Neben der "Narzisse" kommt dann zum Beispiel die "Nachtigall" zu stehen, weil in Mayröckers Naturkosmos Verwandtschaftsverhältnisse am ehesten auf Assonanzen und Lautähnlichkeiten gründen - nicht etwa auf zugrunde gelegten Eigenschaften.

Und doch besitzt der neue, schmale Gedichtband "Scardanelli" ein Verstörungspotenzial, das man nicht bloß der "Autonomie" sprachlichen Handelns zuschreiben kann. Natürlich steht Mayröcker zur "Wiener Gruppe" in einem lockeren Verwandtschaftsverhältnis, vielleicht als betörende Kusine: Sie hat die Verfahrensweisen der experimentellen Literatur auf völlig eigenständige Weise aufgesaugt und das Erbe der europäischen Moderne absorbiert.

"Scardanelli" aber will von allen diesen Reizen nichts mehr wissen: In Mayröckers Lebensmitschrift greift ein neuer, wehmütiger Ton, der den Skandal des Todes - und die mit der Bürde des hohen Alters einhergehenden Verlustanzeigen - so zusammenfasst, dass ein Versagen des Pneumas immerzu hörbar bleibt.

"Pneuma" - der feurige Lufthauch - rührt an das innerste Geheimnis der Dichtung: Nur wer Silben und Strophen beseelt zu sprechen vermag, versteht es auch, in weiten, prosodischen Bögen zu dichten. Mayröcker, durch den Tod ihres Lebensmenschen und Dichterkollegen Ernst Jandl zuinnerst betroffen, hat sich in ihrem neuen Band einen kollabierten Dichter zum Ansprechpartner erwählt. Friedrich Hölderlin, der vielleicht rätselhafteste aller Lyriker, saß als verwirrter Schlackengreis in einem Tübinger Turm fest, um nur noch sporadisch seltsam artige, sprachgebändigte Gedichte für den bereitgestellten Wäschekorb zu produzieren.

Hölderlin (1770-1843) ist das dichterische Opfer des deutschen Idealismus par excellence. Er trägt das Kreuz des (an sich selbst) scheiternden Dichters, und er gilt zugleich als Zeuge einer unmöglich gewordenen Verbindung mit der als entzaubert erlebten Welt. Hinter seinem rätselhaften Bündnis mit den alten Göttern Griechenlands lauern bereits die Vorboten einer schon damals unlebbar gewordenen Welt: Es ist die heraufziehende Industriegesellschaft, die alte Harmonievorstellungen durch schnöde Zweck-Mittel-Relationen ersetzt.

Mayröcker sucht in 40 Gedichten, die unablässig auf einem schmalen Bildervorrat beharren, die Begegnung mit dem Moment der Verzauberung. "Scardanelli" - so pflegte Hölderlin seine späten Früchte voller "Unterthänigkeit" zu unterzeichnen - soll den poetischen Proviant herausrücken, mit dem wir uns in kalten Zeiten bevorraten: "... entgegen kam uns 1 schöner / Wanderer mit Alpenhut und einer Blume in seiner / Hand...", heißt es einmal. Hölderlins "Schaafe" (sic!) sind es, die eine Einübung in die Haltung der Duldsamkeit ermöglichen: Denn skandalös sind Tod, Siechtum und die altersbedingte Einschränkung der Wahrnehmung.

Mayröcker inszeniert die Begegnung mit Scardanelli, der letzten Verlarvung Hölderlins, als Gipfelkonferenz mit einem Wahl-, einem Lebensabschnittsverwandten. Es fällt nicht schwer, in der Wachrufung eines fernen Dichters die zärtliche Bezugnahme auf Jandl - er starb 2000 - mitzuhören.

Der stille Schrecken von Mayröckers gewohnt bezirzenden Landschaftsbeschwörungen liegt daher auch in der realen Abwesenheit aller derjenigen, die ihre poetische Arbeit kollegial bezeugen könnten. Am Schluss bleibt der Dichter, bleibt die Dichterin unrettbar verloren: "weiszt du noch, sage ich zu mir am Morgen jeden Morgen an welchem / ich vor Seligkeit und Angst die Tränen vergiesze, weiszt du noch, / die Bilder in meinem Kopf rasen wir irrwitzige" - hier bricht der Vers ab, hier stürzt die Poesie ins Ungewisse hinunter. Besser vermag Scheitern nicht zu gelingen. (Ronald Pohl, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 18./19.04.2009)