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Tablettenflut: Zu viele Arzneimittel machen krank

Foto: AP/Eckehard Schulz

Eine wahre Geschichte: Der Patient ist 78 Jahre alt, fit, spielt gerne Karten. Seit neuestem zappelt er unruhig mit den Beinen. Das fällt seinem Sohn auf, und er schickt ihn zum Arzt. Parkinson lautet der erste Befund, den ein zweiter hinzugezogener Arzt allerdings ausschließt. Der Sohn koordiniert die Arztbesuche. Die Ursache für die zappelnden Füße bleibt auch nach weiteren Untersuchungen unbekannt, dafür haben dem Patienten die verschiedenen Ärzte fünf unterschiedliche Medikamente verschrieben, darunter ein blutdrucksenkendes Mittel, ein Schlafmittel und Psychopharmaka. Nach nur zehn Tagen ist der Mann komplett verwirrt, kann beim sonst so geliebten Kartenspiel nicht einmal mehr die Karten unterscheiden und baut geistig ab. Diagnose des Hausarztes: Demenz. Erst als der Sohn nach Rücksprache mit anderen Ärzten beginnt, die Medikamente wieder abzusetzen, normalisiert sich die Situation wieder.

Die Diagnose des engagierten Sohnes: "Das System ist krank. Es macht Menschen krank", sagt er. Wenn ein älterer Patient nicht zufällig jemanden habe, der sich die Zeit nehmen könne, genauer zu beobachten, was mit ihm passiere, und mit Ärzten redet, sei ein alter Mensch schneller als Demenzpatient in einem Pflegeheim, als man schauen könne, lautet dessen Resümee.

Dynamische Medikamentenkaskade

Polypharmakotherapie nennen Experten diese Mehrfachgaben von Medikamenten. Die Entwicklung dorthin bezeichnen sie als Medikamentenkaskaden. Die Dynamik: Ein Arzt verschreibt einem Patienten ein Medikament und in der Folge auch Medikamente gegen die Nebenwirkungen dieses ersten Medikaments, anstatt dass die Indikation und Notwendigkeit für das erste Medikament sowie mögliche Alternativen geprüft werden.

Ein Kreislauf wird in Gang gesetzt, der dazu führen kann, dass manche, vor allem ältere Patienten, bis zu zehn verschiedene Medikamente nehmen. Der Salzburger Kardiologe und Intensivmediziner Jochen Schuler hat zusammen mit anderen Wissenschaftern der Paracelsus-Universität in Salzburg und der Salzburger Landeskliniken mehr als 500 betagte Menschen genauer untersucht und nun eine in Medizinerkreisen aufsehenerregende Studie veröffentlicht. Bei der Aufnahme der Patienten im Spital betrug die mittlere Medikamentenanzahl 7,5, bei man-chen bis zu elf. Die meisten der Patienten waren pflegebedürftig und hatten schon mehrere Spitalsbesuche hinter sich. Und je mehr solcher Visiten sie in Krankenhäusern hatten, umso mehr Medikamente hatten sie - vereinfacht beschrieben - auch verordnet bekommen. Das Problem dabei laut Schuler: Bei 36,3 Prozent der Patienten wurden verzichtbare Medikamente gefunden. Bei 30,1 Prozent fanden die Ärzte Medikamente, die für ältere Menschen inadäquat sind. Fehldosierungen gab es bei satten 23,4 Prozent und potenzielle Arzneimittelinteraktionen bei 65,8 Prozent.

Chronische Gefahren

Ein Beispiel für eine solche Medikamentenkaskade ist die Cholinesterasehemmer-Anticholinergikum-Kaskade. Cholinesterasehemmer wie Donepezil, Galantamin oder Rivastigmin werden heute oft bei Demenzsymptomen verschrieben. Durch ihre Wirkung auf das autonome Nervensystem können sie eine Dranginkontinenz fördern. Gleichzeitig kann eine neu auftretende oder sich verschlechternde Inkontinenz aber auch Teil des natürlichen Verlaufs der Demenz sein. Da bleibt Platz für ärztliche Missverständnisse, wenn die Harnwegssymptomatik nicht als Arzneimittelnebenwirkung erkannt wird: Die Inkontinenz wird mit einem Anticholinergikum behandelt, anstatt dass die Dosis des Cholinesterasehemmers reduziert oder dieser ganz abgesetzt wird. Diese Kombinationsbehandlung kann zudem noch den erwünschten Effekt des Cholinesterasehemmers teilweise oder ganz zunichte machen.

"Die Tendenz zur Vielverschreibung nimmt generell zu", sagt Studienautor Schuler. Die Gründe sind für ihn vielfältig. Zum einen sei die steigende Lebenserwartung daran schuld, weil das auch zur Zunahme chronischer Erkrankungen führe. "Gleichzeitig ändert sich der Umgang zwischen Arzt und Patient. Ärzte glauben, dass Patienten die Erwartung haben, Medikamente verordnet zu bekommen. Teilweise stimmt das auch. Parallel werden Ärzte von der Pharmaindustrie bombardiert." Das alles führe zu einem komplexen Wechselspiel, ist Schuler überzeugt.

Schlechte Verschreibungsqualität oder Strukturmängel?

Für den Sprecher der österreichischen Patientenanwälte, Gerald Bachinger, liegt die Lösung vor allem bei den Ärzten. Die Salzburger Studie zeige, dass es nicht nur um die nicht vorhandene Gesamtschau gehe, sondern dass vor allem die Verschreibungsqualität des verschreibenden Arztes nicht ausreichend sei. "Wer soll denn sonst dafür verantwortlich sein, wenn eklatant fehldosierte Medikamente verschrieben werden oder Medikamente, die unzweckmäßig sind oder Medikamente, die für ältere Patienten nicht adäquat sind? Bei diesen Qualitätsmängeln geht es direkt um die fachliche Qualifikation des Arztes", ärgert sich Bachinger. Christoph Reisner, Präsident der Niederösterreichischen Ärztekammer, sieht das Problem nicht bei den Ärzten selbst, sondern in den Strukturen. "In vielen Fällen gibt es für die Verschreiber keinen Zugang zu Information, welche Medikamente der Patient schon bekommen hat", kommentiert er die Salzburger Studie.
Lösungsansätze

Tagtäglich könnten speziell Hausärzte beobachten, wie ein- und derselbe Wirkstoff mehrfach verschrieben werde. Ambulanz-ärzte hätten oft nicht die Möglichkeit, die aktuelle Medikamentenliste der Patienten genau zu erforschen und ihre Schlüsse zu ziehen. Heinrich Burggasser, Präsident der Apothekerkammer, will deshalb rasch den in Salzburg bereits erprobten Arzneimittelsicherheitsgurt umsetzen, um solche Entwicklungen zu verhindern. Dabei sehen Apotheker, aber auch Ärzte über die E-Card, welche Medikamente die Patienten schon nehmen, und auch, welche Wechselwirkungen sich bei Mehrfachverordnungen ergeben können.

Reform mit Kosten-Nutzen-Effekt

Die Umsetzung hätte nach Ansicht der Experten aber nicht nur gesundheitlich positive Folgen für die Patienten, sondern auch für die finanziell angeschlagenen Krankenkassen. Schon jetzt entfallen nämlich auf rund 15 Prozent der Versicherten 85 Prozent der gesamten Ausgaben. Der Großteil dieser 15 Prozent sind chronisch Kranke und alte Menschen. Nicht zuletzt deshalb, weil viele von ihnen mehrfach Medikamente nehmen müssen. Rechnet man die Zahlen der Salzburger Studie mit den Daten der Krankenkassen hoch, so könnten die Kassen bis zu 800 Millionen Euro im Jahr sparen, würden die Gabe von verzichtbaren Arzneimitteln reduziert und Interaktionen durch die genauere Wahl der Medikamente abgestellt werden. (Martin Rümmele, DER STANDARD Printausgabe, 20.4.2009)