Eva Laquièze-Waniek: "Die Zeiten, in denen Freud den Ödipuskomplex entwickelt hat, waren gesellschaftlich andere."

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An der Entwicklung einer neuen Theorie des künstlerischen und psychoanalytischen Wissens arbeiten seit März 2009 sechs WissenschafterInnen und eine Künstlerin. Das Projekt "Übertragungen: Psychoanalyse - Kunst - Gesellschaft" wird von dem neuen "Art(s) & Sciences Call" des Wiener Wissenschafts-, Technologie- und Forschungsfonds (2008 wurde er zum ersten Mal ausgeschrieben) finanziert, ein Impulsprogramm für Geistes-, Sozial und Kulturwissenschaften. Die ProjektmitarbeiterInnen kommen aus den Bereichen Philosophie, Kunst, Kunsttheorie, Psychoanalyse und Medizin und arbeiten bis 2011 an der Schnittstelle zwischen der Theorie der Kunst und der Theorie der Sexualität unter anderem an der Frage: Welche kulturellen Bedingungen müssen gegeben sein, damit Lust empfunden werden kann? Geleitet wird das Projekt von dem Kunsttheoretiker Robert Pfaller und der Philosophin Eva Laquièze-Waniek, die mit derStandard.at über Begriffe wie Übertragung, Ödipuskomplex, Inzesttabu und die aktuelle Relevanz des Projektes spricht.

derStandard.at: Ihr Projekt will die kulturellen Bedingungen von Lust beleuchten. Wie gehen Sie vor?

Eva Laquièze-Waniek: Es gibt mehrere Szenen, die wir versuchen zu verbinden. Das eine ist der Ort der Kunstproduktion und die Frage, welche Bedingungen sind gegeben, dass es zu Kunstproduktion kommt? Die andere Szene ist der Ort der Subjektkonstitution, welche Bedingungen sind hier gegeben, dass es zur Konstitution eines Subjektes kommt, das dann eine bestimmte Begehrensposition einnimmt. Dabei stehen wir dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan sehr nahe, der das, was das Subjekt ausmacht, mit dem Begehren dieser Person gleichsetzt. Das dritte Szenario ist die Gesellschaft selbst: Welche Formationen gibt es hier, die zur Produktion von Begehren, von Genuss führen, und welche Komponenten sind dabei hinderlich?
Wir versuchen, diese drei analytischen Szenarien mit dem Begriff der Übertragung zu verbinden, in Wirklichkeit sind das ja auch schon immer vernetzte Szenarien. Wir haben ja nicht die Kunstproduktion hier und die Gesellschaft dort.

derStandard.at: Wie verbinden Sie diese Szenarien?

Laquièze-Waniek: Wir haben dafür weitere Subthemen festgelegt, um diese drei Szenarien in Verbindung zu bringen und schlaglichtartig zu beleuchten. Das sind die Begriffe: Magie, Imagination, Übertragung, Körper, Geschlecht und Ödipuskomplex.

Anhand dieser in der Theorie durchaus umstrittenen Themenbereiche betrachten wir die Schnittpunkte zwischen den drei beschriebenen Szenen. Mein Schwerpunktthema - alle ProjektmitarbeiterInnen arbeiten an einem der Subthemen - ist Geschlecht. Eine zentrale Frage lautet hier, inwiefern wirken normative Prozesse in der Gesellschaft auf die Geschlechtsidentität oder das Begehren des Subjektes ein. Was die Kunst anbelangt, frage ich, inwieweit das zu einem bestimmenden Thema für und in der Kunstproduktion wird.

Ich möchte die Diskurstheorie der Philosophin Judith Butler um die Komponente der Lust und Sexualität erweitern. Butler hat gezeigt, wie stark gesellschaftliche Konventionen auf das, was wir geschlechtsspezifische Identität nennen, einwirken. Aber ich denke, dass ihre Analysen zu sehr an einem kontrollierten und bewussten Ich haften bleiben.

Ich möchte somit verstärkt die Momente des Unbewussten, die für die Subjektkonstitution wesentlich sind und die auch immer auf einer gesellschaftlichen Bühne stattfinden, einbringen.

derStandard.at: Welche Rolle spielt der Ödipuskomplex bei der Arbeit am Projekt?

Laquièze-Waniek: Für mich - und auch für die anderen im Projekt - ist der Ödipuskomplex für die Konstitution des Subjektes zentral, also jene Phase, in der wir eine Geschlechtsidentität annehmen und ein bestimmtes Begehren entwickeln.

Den Ödipuskomplex kann man sich ohne das Inzesttabu nicht vorstellen, insofern sind wir alle zutiefst von der gesellschaftlichen und diskursiven Größe dieses Verbots geprägt. Der Ödipuskomplex oder die Art, wie wir mit dem Inzesttabu unbewusst umgehen, ist auch ein zentraler Kreuzpunkt, an dem unsere Felder zusammenkommen.

Beim Inzestverbot geht es bekannter Weise darum, dass man den Vater, die Mutter oder einen nahen Verwandten sexuell nicht genießen darf. Phantasien kann oder muss man wohl haben, um sich entwickeln und liebesfähig werden zu können. Aber dieses Begehren muss dann außerhalb des engen Verwandtschaftsverhältnisses auf jemanden in der Sozietät übertragen werden. Was die genauen Grenzen für ein enges Verwandtschaftsverhältnis bestimmt, ist gesellschaftlich bedingt, aber das Minimalset von Eltern, Großeltern, Geschwister und Geschwister der Eltern dürfte in allen Kulturen bekannt sein.

Dieses Tabu und die von ihm erzwungene Annahme einer Geschlechtsidentität findet also nicht im luftleeren Raum statt, sondern ist auch mit der Art und Weise verbunden, wie in einer Familie zum Beispiel anhand der Figur der Mutter Weiblichkeit definiert ist, was für ein Kind ja einladend oder abstoßend wirken kann. Wenn man an die Zeiten Freuds denkt, an die eingeschränkten Rechte und Handlungsspielräume für Frauen etwa, dann konnte die Einladung, eine weibliche Rolle anzunehmen, verständlicher Weise zu einer ambivalenten Sache werden. Denn die Identifikation und die Entscheidung, wo das Begehren hingeht, findet nicht nur vor einem normativen Hintergrund in der Gesellschaft statt, sondern vor allem auch in einer konkreten Familie - und das natürlich unbewusst. Man entscheidet sich ja nicht als Dreijährige bewusst dafür, dass man hinkünftig homo- oder heterosexuelle Objektbeziehungen haben will.

derStandard.at: Aber die Familie hat ja einen starken institutionellen Charakter und ist wiederum vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext geprägt.

Laquièze-Waniek: Ja. Die Familie als Institution ist nur vom Inzestverbot aus denkbar. Die private Familie und die öffentliche Gesellschaft und auch der Staat mit seiner Rechtsgrundlage sind verschiedene Formationen und Sphären, die sich strukturell daraus ermöglichen. Aber dennoch gibt es spezielle familiäre Formen des Genießens oder auch Abwehrformen, die die Subjektkonstitution mitbestimmen und die in der einen Familie so und in einer anderen anders sein können.

derStandard.at: Welche Rolle spielt der Begriff der Übertragung für ihr Projekt?

Laquièze-Waniek: Der Begriff ist für unsere Methode äußert wichtig. Im klassischen psychoanalytischen Setting läuft ohne Übertragung gar nichts. Die AnalytikerInnen, die sich im Begehren ja selbst bedeckt halten müssen, geben eine Art weiße Projektionsfläche ab, auf die der/die AnalysandIn dann das eigene Begehren, das sich auf Grund einer ganz bestimmten Lebensgeschichte entwickelt hat, projizieren kann. Bei dieser Projektion handelt es sich also um eine Übertragung des eigenen Begehrens nach den ersten Bezugspersonen auf die/den AnalytikerIn, was im psychoanalytischen Kontext die Möglichkeit gibt, das eigene Begehren bewusst zu machen: Warum ist es so geworden, warum erzeugt es beispielsweise immer wieder Leid usw.?
Aber auch bei dem/der AnalytikerIn löst die Übertragung etwas aus, was man Gegenübertragung nennt, und das von Seiten des/der AnalytikerIn benutzt werden kann, um den Verlauf der Analyse reflektieren zu können. Der Übertragungsvorgang ist damit für beide Seiten bestimmend.
Die Übertragung spielt auch nicht zufälliger Weise im performativen Sinn eine wichtige Rolle wie bei der Wunsch-, Befehls- oder Besitzübertragungen etwa. Sie ist für uns als sprachliche Wesen wohl zentral, denn wie sollten sprachliche Akte ohne Übertragung gelingen?

derStandard.at: Welche Rolle spielt das Vorhaben des Projektes für aktuelle gesellschaftliche Fragen?

Laquièze-Waniek: Unser Wunsch ist es, eine neue Ästhetik zu entwickeln, in der das un/bewusste Wissen um Konflikte und Lust das künstlerische Szenario wesentlich mitbestimmt. Damit wollen wir nicht nur das der Kunst eigene Wissen, sondern auch gesellschaftlich relevante Fragen der Subjektkonstitution in ein neues Licht rücken.

Die konkrete Fragestellung meines Kollegen Georg Gröller lautet dementsprechend, was die Relevanz des Ödipuskomplexes heute ist? Da steht sicher viel an. Die Zeiten, in denen Freud den Ödipuskomplex entwickelt hat, waren gesellschaftlich andere. Es gibt heute neue Familienmodelle wie z. B. die Patchworkfamilien. In dem Zusammenhang finde ich es eine dringliche Frage, wer als Vater oder Mutter fungiert, wenn es nicht der jeweils biologische Vater oder die biologische Mutter ist oder wenn es zwei Frauen oder zwei Männer sind. Die Frage stellt sich hier, welche Risiken geht man ein oder welche Sicherheiten setzt man auf Spiel, aber auch welchen Gewinn hat es, wenn man von den bisherigen Konzepten abweichen will. Da gilt es einige Fragen zu klären. (Die Fragen stelle Beate Hausbichler, derStandard.at, 8.4.2009)