Stationen aus dem Leben eines Kinokindes: Jean-Pierre Léaud (und Dominique Blanc) in Bertrand Bonellos "Le pornographe" von 2001 und...

Foto: Österreichisches Filmmuseum

... (neben Anne Wiazemsky) in Jean-Luc Godards "La chinoise" von 1967.

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Wien - Eine Gruppe von Jungen, alle in den gleichen dunklen Trainingsanzügen, spielt Fußball. Einer folgt dem Ball an den Rand des Spielfelds, er läuft und hört nicht mehr auf zu laufen. Er rennt, immer weiter, bis er über Dünen an einen Strand gelangt. Am Wasser macht er schließlich kehrt. Er wendet sich der Kamera zu: Der Junge wagt ein vorsichtiges Lächeln - und noch bevor Bewegung und Mimik sich zur Eindeutigkeit verfestigen können, gefriert das Bild, bricht etwas ab und eröffnet zugleich Möglichkeiten.

Der Junge mit den verstrubbelten kurzen Haaren, der im Film auf den Namen Antoine Doinel hört und im wirklichen Leben Jean-Pierre Léaud heißt, wird später eine andere Frisur kultivieren, sein Haar länger tragen. Den ernsten Gesichtsausdruck wird er beibehalten. Je nach Kontext und Nuancierung ist diese Miene als nachdenklich, eingeschüchtert oder überheblich, als wütend oder waidwund lesbar. 

"Ich lache nie" , sagt Jean-Pierre Léaud einmal in Jean Eustaches La maman et la putain (Die Mama und die Hure, 1973). Tatsächlich kann man auch aus anderen Filmen kaum einen lachenden Léaud erinnern - was Komik jedoch überhaupt nicht ausschließt. Vielmehr verkörpert und prägt der schmale Franzose von Film zu Film einen Typus, der seine eigene Ironisierung stets ein Stück weit mitbetreibt: ob als Großstadtneurotiker, den es unentschlossen zwischen Frauen hin- und herreißt; ob als Künstler (mehr als einmal wird Léaud in der Rolle eines Filmregisseurs besetzt), der mit seinen Ideen, seiner Arbeit oder seinen Mitarbeitern ringt. Zwischen Nervensägentum - bis hin zum Slapstick - und großem Pathos erweist sich Léaud noch in jüngsten Arbeiten als würdiger Nachfahre von großen Leinwandstoikern wie Buster Keaton und Jacques Tati.

Jean-Pierre Léaud, 1944 geboren, kommt als Autodidakt zum Film. Der angehende Regisseur François Truffaut wählt ihn 1959 aus, um in seinem Spielfilmdebüt Les quatre cents coups (Sie küssten und sie schlugen ihn) den besagten Pariser Teenager Antoine Doinel zu spielen, der lieber ins Kino als zur Schule geht. Der in den Werken von Balzac heimisch wird, während seine Eltern mit sich und ihrem Beziehungsfrust beschäftigt sind und ihn schließlich in ein Erziehungsheim abschieben.

Serienheld der Neuen Welle

Der Film wird in Cannes uraufgeführt. Er ist eines der Initialwerke jener Erneuerungsbewegung des französischen Kinos, die bald unter dem Label Nouvelle Vague firmiert. Aber Les quatre cents coups wird auch der erste Film einer ungewöhnlichen Serie: Drei Jahre später nimmt Truffaut die Geschichte seines jugendlichen Helden mit der Filmepisode Antoine und Colette wieder auf. Noch drei weitere Fortsetzungen werden bis 1979 folgen, in denen Doinel eine Familie gründet und wieder aufgibt (während über Léauds Privatleben bis heute kaum etwas bekannt ist).

Rund um diese fiktive Langzeitbeobachtung kann man entlang der Filme, in denen Léaud mitwirkt, auch eine Geschichte des französischen Kinos erzählen. Bald arbeiten Jean Eustache und Jean-Luc Godard mit dem jungen Schauspieler. Die Auswahl von mehr als 40 Filmen, die nun in Wien zu sehen sind, schließt die weit weniger bekannten Kollaborationen mit internationalen Regisseuren ein, die parallel dazu entstehen: mit Jerzy Skolimowski (Le départ, 1967), Pier Paolo Pasolini (Porcile / Der Schweinestall, 1969) oder Glauber Rocha (Der Leone Have Sept Cabecas, 1970).

"Mangelnde Natürlichkeit"

Sie zeigt jedoch auch - etwa mit dem seinerzeit heftig umkämpften La maman et la putain -, wie Léaud in einer weiteren kleinen Wendung seiner elaborierten Persona die Erfahrung des Mai '68 und des Scheiterns sozialer und politischer Utopien aufnimmt: jene eigentümliche Zermürbtheit von Individuen und zerbröselnden Kollektiven, der Philippe Garrel Jahrzehnte später mit Les amants reguliers (2005) einen ganzen Film widmet.
Und so wie Garrels Sohn Louis, der darin die Hauptrolle spielt, so wie vor diesem Fabrice Luchini oder Melvil Popaud, wirken umgekehrt viele der jungen Elegiker und Maulhelden, Rebellen und Müßiggänger des französischen Kinos wie Paraphrasen auf eine Léaud-Figur. Während man diesem anlässlich von La maman noch "mangelnde Natürlichkeit" vorgeworfen hatte, hat Léaud mit seinem reduzierten Spiel, seinen Posen und Manierismen also längst eine eigene "Schule" begründet. 

Léaud selbst, um den es in den 80ern ein wenig ruhiger geworden war, tritt mittlerweile wieder regelmäßig vor die Kamera: Ausgerechnet der maulfaule Finne Aki Kaurismäki war es, der ihn gleich zu Beginn der 90er-Jahre mit I Hired A Contract Killer und La Vie de Bohème für eine nächste Generation von Cinephilen entdeckt. Olivier Assayas hat ihn besetzt, ebenso wie Danièle Dubroux, Bertrand Bonello oder der Taiwanese Tsai Ming-liang. Letzterer lässt ihn übrigens in seinem gerade in Produktion befindlichen Film Visages unter dem Namen Antoine auftreten. Profession: Filmemacher. (Isabella Reicher, DER STANDARD/Printausgabe, 7.4.2009)