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Wilhelm Genazino rekonstruiert die Kunst des Wiener Prosa-Feuilletonisten Peter Altenberg.

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Ein Wiener Gespräch mit Stefan Gmünder und Ronald Pohl.

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Standard: Sie haben sich mit dem Wiener Feuilletonisten Peter Altenberg beschäftigt und eine neue Auswahl seiner Texte mit einem Essay eingeleitet. Darin versuchen Sie, anhand der "Spleens" von Altenberg - etwa für blutjunge Mädchen - das moderne Subjekt zu rekonstruieren. Wir schreiben "Wien um 1900": Ein unglücklicher Prosakünstler schlägt aus seinem scheiternden Leben künstlerisches Kapital. Haben Sie in Altenberg einen Wahlverwandten erkannt?

Genazino: Ich glaube eher nicht. Die Differenzen zu meinen Figuren sind zu groß. Man muss ja sehen, dass Altenberg ein unglaublich gebildeter Mensch war. Das sind meine Romanhelden überwiegend nicht. Meine Figuren sind in die Spät- oder Postmoderne hineingeworfen: Sie versuchen, über die Runden zu kommen. Sie sind aber in der Regel nicht in der Lage, diesen Gewinn zu ziehen, den Altenberg einstreifen konnte. Sie sind nur Herumgehende, sich Zerstreuende. Meine Figuren sind froh, wenn sie irgendwo eine geschützte Ecke in ihrer Wohnung finden und diesen ganzen mehr oder weniger verhüllten Angriffen auf das Subjekt entgehen.

Standard: Das Flanieren ist also zu einem Verlustgeschäft geworden. Gibt es den "Flaneur" nicht mehr?

Genazino: Der Flaneur ist ja ein Etikett, das mir vom Feuilleton immer aufgeklebt wird. Ich verwende das Wort Flaneur nicht, ich nenne meine Figuren "Streuner" . Der Streuner ist einer, der nicht richtig weiß, wohin er geht, also mehr ein Getriebener - einer, der nicht weiß, wo's langgeht. In Österreich sind die Voraussetzungen für das Streunen ganz andere: Sie finden in Wien eine Geschichte, die auch baulich ihren sinnfälligen Niederschlag gefunden hat. In Deutschland gab es das totale Desaster nach dem Nazismus: Es musste aufgebaut werden. Daher sieht heute alles wahnsinnig modernistisch und funktional aus. Aber der ganze Hintergrund, den man hier in Wien sieht und spürt, ist in Deutschland, gleichsam als Erbfolge der Nazizeit, kaputt.

Standard: Die Figur in Ihrem neuen Roman "Das Glück in glücksfernen Zeiten" ist als studierter Philosoph Disponent in einer Großwäscherei. Warlich ist von einer Untröstlichkeit gezeichnet, die nach neuen Medikamentationen verlangt: Sein Bemühen, den "Rand zu halten", führt ihn schnurstracks in die Psychiatrie. Steigern Sie damit nicht Ihr Unglücksprogramm?

Genazino: Das kann man so sehen, obwohl mir das nicht vorschwebte. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich habe keinerlei programmatische Absichten beim Schreiben. Es ist mir auch egal, ob ein neues Buch den vorigen jetzt sehr oder nur am Rande ähnelt. Ich habe eine bestimmte Dynamik im Auge, die sich aus dem Material ergibt. Dieser Intellektuelle, der Warlich auch ist, ist eine besonders riskante Figur in der heutigen Zeit. Warlich ist ja genau das, was die anderen nicht sind: Er ist gebildet, und er leidet an seiner Bildung. Er besitzt diese Sehnsucht, eine Allerweltsfigur zu sein, dann hätte er einige Probleme weniger. Altenberg hat das Wort "Ichismus" für diese unglaubliche Selbstbezogenheit geprägt, die der Intellektuelle ja mangels geeigneter Kommunikation immer hat.

Standard: Wohin aber mit diesen Überschüssen, die im Arbeitsleben nicht mehr produktiv werden?

Genazino: Viele Menschen haben ja nicht ein Problem als Produzenten, sondern als Rezipienten. Das heißt, sie sitzen in einem Theater, sie gehen in die Kunsthallen oder machen Kultur-Exkursionen - alles gebildete Menschen, die ihre Bildungsüberschüsse sowohl regenerieren als auch abbauen. Ich wohne in Frankfurt in Universitätsnähe. Dort kann man Tag für Tag den scheiternden Bildungsbürgern begegnen, die nirgendwo untergekommen sind. Bei keiner Zeitung, keiner Dramaturgie, keiner Leserbriefredaktion, es gibt ja da die merkwürdigsten Möglichkeiten. Und das ist dann sehr schwierig. Häufig sind sie noch einige Jahre Privatdozent gewesen, was meist nicht gut war, weil sie um drei Ecken herum die Illusion einer Universitätskarriere aufbauen konnten. Wenn dann nach sieben, acht Jahren der Vertrag ausläuft, stehen sie vor dem nackten Nichts - und machen ein Antiquariat auf.

Standard: Das war zu Zeiten Altenbergs anders?

Genazino: Ich denke schon. Es gab damals ein blühendes Feuilleton, aber es gab natürlich auch das "Temperament" Altenbergs. Er hat ja etwas aus seinen Ressourcen machen können, das muss man sehen. Deswegen ist er ja doch eine Ausnahme. Und gleichzeitig ist er gut über die Runden gekommen. Es war auch die Zeit von Freud, Karl Kraus und so weiter. Das waren scharfe Intellektuelle, die gleichzeitig in derselben Stadt miteinander harmonieren konnten. Das ist ein wunderbares Gewebe gewesen. Diese Kultur um 1900 war offenbar imstande, alle diese Potenzen am Leben zu halten.

Standard: In Wahrheit interessiert Sie aber das Scheitern?

Genazino: Ich bin mir da selber nicht sicher. Aber es interessiert mich wahrscheinlich doch, weil das Scheitern beredt ist, "sprechend" : Es gibt das Subjekt frei, das gescheitert ist, und es legt außerdem die Gründe frei, die in einer Gesellschaft zum Scheitern führen können - nicht müssen, wohlgemerkt. Ein Mensch wie Altenberg war ja lange kein Gescheiterter, tendierte aber dann am Schluss stark dazu - auch unter Einfluss all seiner bedauerlichen Tendenzen und Leidenschaften, seines Alkoholismus, seiner Drogensucht, seiner merkwürdigen Erotik. Wien ist wohl das geeignete Pflaster dafür gewesen, so etwas zu illuminieren.

Standard: Wenn im Scheitern Schönheit und Würde liegen, so bleibt doch die Frage offen: Wie lange kann man über das Scheitern literarisch handeln?

Genazino: Ich glaube, dass das Thema das Medium gewechselt hat. Denken Sie an das Kino! Das spielte zu Altenbergs Zeiten ja keine Rolle. Aber heute nennt man im Kino den Scheiternden nicht den Scheiternden, sondern einen "Loser" . Das ist im Grunde eine traditionelle Figur. Der "Loser" scheitert genauso an der Kultur, wie Altenberg an der Kultur gescheitert ist. Doch im Gegensatz zu den literarisch oder kulturell Scheiternden haben die heutigen "Loser" einfach keinen Hintergrund mehr.

Standard: Den klassischen Verlierer rettet nur sein kindlicher Blick?

Genazino: Der Kinderblick gehört zu den Essentials meines Schreibens. Alle meine Figuren machen irgendwann die Entdeckung, dass sie eigentlich nicht "hierher" gehören. Es stellt sich ihnen das Problem eines stehengebliebenen Infantilismus - der Unmöglichkeit, die Leiter zu finden, die sie in eine adäquate Position in den Verhältnissen hineinführen könnte.

(DER STANDARD/Printausgabe, 28./29.03.2009)