Wie beispielsweise Ulrich Khuon, der unbestrittene Direktionsstar des Hamburger Thalia Theaters.
Ulrich Khuon (58), seit 2000 Leiter des Hamburger Thalia Theaters, versteht sich als Künstler-Intendant, obwohl er weder Regie führt noch sonst ein einschlägiges Bühnenkunsthandwerk ausübt. Seine Kunst entsteht im Büro. Da man aber das Geniale nicht am Schreibtisch planen könne, sieht der Schwabe seine Hauptaufgabe als Intendantenkünstler darin, das Ordentliche so zu planen, dass Außerordentliches entstehen kann. Dieses Geschick wird Khuon auch als Leiter des Deutschen Theaters in Berlin benötigen, dessen Intendanz er im Herbst 2009 antritt.
Die Primärtugenden
Schwäbische Primärtugenden als Grundlage für künstlerische Höhenflüge? Das Geheimnis des Gelingens liege darin, sorgfältig zu überlegen, mit welchen Schauspielern und welchen Regisseuren man welche Stücke mache, welche schöpferischen Kräfte man also aufeinandertreffen lasse, damit sie die größtmögliche künstlerische Energie freisetzen: "Und wenn man Glück hat, passen dann die Beteiligten auch zusammen."
In diesem Sinn hatte Khuon in den letzten achteinhalb Jahren sehr viel Glück am Hamburger Thalia Theater. Die Beteiligten passten so oft so gut zusammen, dass unter seiner Ägide das Haus sämtliche Trophäen abräumte, die im deutschen Theaterbetrieb verteilt werden: Einladungen zur Leistungsschau der Branche, dem Berliner Theatertreffen; die Auszeichnung Theater des Jahres; im letzten Herbst den Deutschen Theaterpreis Faust für Andreas Kriegenburgs verstörende Uraufführung von Dea Lohers Das letzte Feuer. Allein elf Theatertreffen-Einladungen in neun Spielzeiten nobilitieren Khuons einschüchternde Erfolgsbilanz, die zugleich, und das ist das eigentlich Mirakulöse daran, an der Kasse nicht minder freundlich zu Buche schlägt. Rund eine halbe Million Euro Überschuss will er seinem Nachfolger, dem amtierenden Burgtheater-Chefdramaturgen Joachim Lux, als Begrüßungsgeld überreichen.
"Wir wollten es uns und dem Publikum nicht leicht machen", beteuert Khuon. Das glaubte man ihm selbst dann, wenn er nicht ganz so gelassen Rückschau hielte auf eine Intendanz, die das Thalia Theater, traditionell das zweite, weil an Größe und Zuschüssen kleinere der Hamburger Staatstheater, weit vor dem ewig kriselnden Schauspielhaus positioniert hat. Und das mit Regie-Handschriften, mit denen sich Khuon eigentlich eine blutige Nase hätte holen müssen.
Das Thalia war nicht erst seit Khuons Vorgänger Jürgen Flimm der Ort, an dem sich die hanseatische Bildungsbourgeoisie ihre kultivierte, geschmackvolle Abendunterhaltung verabreichen ließ. Auf einmal wurden sogar anständige Stücke unanständig inszeniert! Das zumindest empfand ein geschmackssicherer ehemaliger Hamburger Bürgermeister anlässlich einer denkwürdigen Premiere gleich zu Beginn von Khuons Amtszeit, die dem neuen Intendanten, trotz Schauspielerinnen-Weinkrämpfen und Zuschauertumulten in den ersten Folgevorstellungen, zum schieren Glück geriet, das wohl nur der Tüchtige hat.
Was war geschehen? Ein weitgehend unbekannter Regisseur hatte Molnárs Bühnenzuckerl Liliom alles Süße entzogen und die Vorstadtlegende derart rabiat entbeint, dass nichts als das nackte Elend zum Vorschein kam. Der radikale Spielleiter hieß Michael Thalheimer und startete damals eine verblüffende Karriere. Die Fachwelt war begeistert. Prompt folgte die Einladung zum Theatertreffen, und Khuon galt fortan als innovativer Theatermacher. "Das gab Rückenwind", konstatiert er heute.
"Unanständig" ist ihm ein willkommenes Stichwort: "Eine Grundfrage ist doch: Will ich als Zuschauer in Ruhe gelassen werden, oder will ich auch im Theater mit der Wirklichkeit in Berührung kommen? Ich bin in jeder Hinsicht ein Wirklichkeitsfanatiker. Gerade mit der Kunst muss man hinein ins Leben, sie hat eine zutiefst soziale Dimension. Natürlich ist Penthesilea unanständig. Die sexuellen Obsessionen in Lulu kann man auch nicht ordentlich machen. Die Trostlosigkeit der Sexualität in Liliom können Menschen schwer aushalten. Deshalb die Ablehnung. Wir müssen Grenzen verletzen, aber nicht, um zu provozieren, sondern um unsere Schuldzuweisungsreflexe neu zu reflektieren."
Altmodische Absicht
Befreit die an Khuons Theater manifest gewordene Zustimmung des Bürgers zur Avantgarde diesen von der Angst, ein Spießer zu sein? Khuon lächelt. Er wisse schon, dass das, was er anbiete, auch als Alibi missverstanden werden könne. Der Bürger sei extrem zu verunsichern. Doch das sei doch die Grundvoraussetzung für Veränderungsbereitschaft: "Aus meiner Sicht müsste das, was wir tun, weiterwirken." Das Theater des studierten Theologen versteht keinen Spaß. Es will ganz altmodisch im Zuschauer durch Schrecken Mitleiden auslösen: "Wir müssen die Leute überzeugen: 'Bleib erschütterbar und widersteh'!" (Oswald Demattia aus Hamburg / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.3.2009)